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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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wollte. Immerhin: sie führte zu nichts.
    Viele andere erinnern sich ebenfalls an die schwedisch-lettische Krankenschwester. Auf Bildern ist sie auffallend hübsch. Sie sprach mit fast allen Insassen des Baltenlagers. Der Lagerkommissar, der in diesen Tagen immer mehr gezwungen war, Eichfuss als Assistent zu dienen, erinnert sich sehr gut an sie. Manchmal stand sie vor dem Wachhäuschen und wartete auf die Erlaubnis, das Lager zu betreten; es war nicht sehr kalt, nur wenige Grade unter null, aber mitunter war sie gezwungen, länger zu warten, und dann fror sie, für ein längeres Stillstehen im Freien trug sie nicht die richtige Kleidung. Einmal nahm er sie in seinem Armeeauto mit und fuhr sie eine halbe Stunde herum, wobei sie ihre Füße gegen die Warmluftdüse des Fußraums presste. Sie saß stumm auf dem Vordersitz und starrte durch die Windschutzscheibe; er fuhr sie herum, dann wieder zurück zum Lager; sie ging hinein und blieb lange fort.
    Viele versuchten, sie dazu zu bringen, die Balten zu einer Beendigung des Hungerstreiks zu bewegen. Sie weigerte sich aber beharrlich, sie glaubte, »den Kampf ihrer Landsleute für eine Änderung des Auslieferungsbeschlusses respektieren« zu müssen. Sie wusste ja auch, was alle Eingeweihten schon wussten: dass die Alternative zu Eichfuss und Hungerstreik nicht Resignation, Fügsamkeit und Ordnung, sondern Gailitis, gewaltsamer Widerstand und Selbstverstümmelungen hieß.
    Alle betrachteten die Balten als Einheit. Jedoch: sie setzten sich aus drei Nationalitäten zusammen. Letten und Litauer verstanden kein Estnisch. Die Letten konnten nicht Litauisch sprechen. Keiner verstand die Sprache der anderen, sie verständigten sich über die Sprachgrenzen hinweg, auf Deutsch.
    Mit Beginn des November kam der Morgennebel, der dicht über der Ebene lag und die Baracken in graue, feuchte Watte hüllte. Der Morgen, an dem der Hungerstreik begann, war der erste nebelfreie Morgen seit langem, das Thermometer zeigte minus drei Grad, und das Gras war mit Rauhreif überzogen. Am 25. kam der Nebel wieder und blieb noch gegen 11 Uhr vormittags am Boden. Es war wieder etwas wärmer geworden; am 26. war der Himmel grau, die Temperatur wenig über null, kein Nebel. Am Morgen des 27. fiel schwerer Schneeregen; es wurden fünf Millimeter gemessen. Der Schnee blieb mehr als einen Tag liegen, auf dem Lagergelände verwandelte er sich aber schnell in Matsch. Die Temperatur am 27. November, 13 Uhr, plus 0,6 Grad Celsius.
    Der Himmel grau. Keine Sonne.
    Am 24. traten die Deutschen in Ränneslätt in den Hungerstreik.
    Am selben Tag kamen die Offiziere der schwedischen Wachregimenter »Ing 2« und »I 12« zusammen; die Regimentschefs verlasen eine Proklamation, worauf eine geheime Abstimmung durchgeführt wurde. Sie zeigte, dass die Offiziere einmütig hinter der Erklärung standen. Die Unteroffiziere trafen sich zu einer gesonderten Besprechung und nahmen eine im Wortlaut identische Proklamation an.
    Es handelte sich um ein Protestschreiben, das noch am selben Tag telegrafisch an den König abgeschickt wurde. Es lautete:
    »Offiziere und Unteroffiziere von ›Ing 2‹ und ›I 12‹ möchten hiermit aus Anlass der bevorstehenden Auslieferung der in Ränneslätt internierten baltischen und deutschen Flüchtlinge Eurer Majestät folgendes untertänigst zur Kenntnis bringen:
    Unsere Loyalität gegenüber König und Regierung ist unerschütterlich, und wir werden gegebenen Befehlen unbedingten Gehorsam leisten. Unser Gewissen und unsere Ehre als Soldaten gebieten uns aber, unserer Scham über die Mitwirkung an der bevorstehenden Auslieferung auf das nachdrücklichste Ausdruck zu geben. Offiziere und Unteroffiziere sind sich in ihrem Abscheu gegen das nazistische Regime in Deutschland immer einig gewesen, daher ist das oben Erwähnte von politischen Erwägungen völlig frei. Die einmütige Annahme dieser Erklärung ist ohne Anwendung von Druck in geheimen Abstimmungen zustande gekommen; ›Ing 2‹ und ›I 12‹ sowie Offiziere und Unteroffiziere haben ihre Zustimmung in gesonderten Abstimmungen erteilt.«
    Zur gleichen Zeit begannen die Blumen zu kommen: innerhalb weniger Stunden waren die Blumenläden von Eksjö und Nässjö ausverkauft. Nun standen überall in den Baracken Blumen, in allen Zimmern und Fluren. Die Balten lagen zumeist völlig passiv und apathisch in ihren Betten. Am Sonnabend begannen die Vorbereitungen für den Abtransport: in Nässjö standen fünfzehn 3.-Klasse-Wagen bereit; man

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