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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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lehmig war. In der ersten Nacht versuchten sieben Mann aus dem deutschen Lager zu fliehen; sie schnitten den Stacheldraht mit Zangen auf und robbten hinaus. Zwei von ihnen wurden nach einer halben Stunde gefasst, die anderen gingen in Richtung Nässjö und wurden am nächsten Morgen aufgegriffen. Dies geschah in der Nacht zum 23. September, aber am folgenden Tag wurden die Absperrungen in ununterbrochener Arbeit weiter ausgebaut; danach gab es keine Fluchtversuche mehr.
    Die ganze Nacht leuchteten die Schweinwerfer, die ganze Nacht hörte man in Ränneslätt das eigenartige Brummen des Akkumulators. Im Morgengrauen wurden die Scheinwerfer ausgeschaltet, es war wieder still.
    Am Abend des 23. die erste ärztliche Untersuchung. Die Häftlinge hatten bereits ein dreißigstündiges Fasten hinter sich. Der Militärarzt teilte der Presse mit, dass die Balten nicht aßen, aber viel Wasser tranken, dass sie hohen Puls hatten, dass einige unter Kopfschmerzen litten und dass die meisten in ihren Betten lagen.
    Am selben Abend übergab Eichfuss, der sich nun nicht mehr in Gesellschaft der übrigen Mitglieder des Streikkomitees befand, der schwedischen Lagerleitung ein neues Memorandum. Das Schreiben enthielt ausführliche Anweisungen für die Durchführung des »freiwillig-passiven Widerstands« und bedeutete praktisch ein generelles Verbot für die Schweden, das Lager zu betreten. Sollten mehr als sechs bewaffnete oder unbewaffnete nicht-internierte Personen in das abgesperrte Gelände kommen, würden die im Hungerstreik befindlichen Internierten sich nackt ausziehen und ihre Kleidung verbrennen. Sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Internierten abzutransportieren, würden diese sich mit Stacheldraht festbinden und schließlich Selbstmord begehen.
    Eichfuss übergab das Schreiben persönlich an den schwedischen Lagerkommandanten Grahnberg, der es entgegennahm, sich aber weigerte, einen Kommentar zu geben. Nach diesem Augenblick war Elmars Eichfuss-Atvars der Alleinherrscher im Lager.
    Wer aus irgendeinem Grund gezwungen war, das Lager zu betreten, staunte am meisten darüber, wie total die Balten das Kommando in eigene Hände genommen hatten, wie groß ihre Macht war. Oder: wie groß die Macht von Eichfuss war. Die Ärzte, die aus Stockholm gekommen waren, um die Balten zu untersuchen, standen verblüfft am Lagertor und warteten zusammen mit dem schwedischen Lagerchef auf die Erlaubnis, das Lager zu betreten. Es wurde ein Kurier zu Eichfuss geschickt, der die Genehmigung einholen sollte. Nach zehn Minuten kam Eichfuss mit dem Kurier, er war barhäuptig wie immer, außerordentlich höflich und erlaubte den Ärzten einzutreten.
    So war es jedesmal. Draußen war die Welt der Schweden, dort gab es tausend Mann und viele Gewehre. Drinnen war die Welt der Balten, die ihren eigenen Gesetzen gehorchten.
    Oder wessen Gesetzen?
    Eine der Baracken war für Gottesdienste hergerichtet worden. Als Altar diente ein einfacher Tisch, auf dem ein geschnitztes Kreuz stand. Abendmahlskelche hatte man als Leihgabe von der schwedischen Kirche in Eksjö bekommen.
    Der Raum wurde fleißig benutzt, was zum Teil darauf beruhte, dass das Lager von mehreren baltischen Pfarrern besucht wurde. Zu den Pastoren Vilsnis, Lamberts, Terinz, Sakarnis und Täheväli gesellten sich mitunter deutsche und schwedische Pfarrer. Es wurde daher fast täglich ein Gottesdienst abgehalten; überdies stellten die Pfarrer die wichtigsten Verbindungen zwischen den Balten und ihren Freunden außerhalb des Lagers her. Durch die Pfarrer bekamen sie Informationen über den Stand der Dinge, zusammenfassende Berichte über die schwedische Pressedebatte und somit auch die Möglichkeit, ihre Anstrengungen zu koordinieren.
    Die Verbindungen zwischen den Balten, den baltischen Pfarrern, dem Diakonischen Amt, den schwedischen Bischöfen, die an der Besprechung mit Undén teilgenommen hatten, und dem kirchlichen Widerstand überhaupt sind offenkundig und leicht zu belegen. Das allerletzte Verbindungsglied, die Kontakte mit den Lagerinsassen selbst, ließ sich am schwersten aufrechterhalten; diese Aufgabe wurde von den baltischen Pfarrern jedoch immer noch auf verdienstvolle Weise erfüllt. Später sollten die schwedischen Behörden ihnen Schwierigkeiten in den Weg legen, was im Dezember und Januar den Gegnern der Auslieferung große Probleme aufgab.
    Die Gottesdienste waren oft ökumenisch. Ein Beispiel ist der Gottesdienst vom 26. November; anwesend waren die Pfarrer Lamberts,

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