Die Ausgelieferten
unmöglich zu beschreiben, aber deutlich und stark.
Die Ankündigung, dass auf dem Marktplatz eine Protestversammlung stattfinden sollte, hörte sie von ihrer Schwester. Sie lag gerade auf dem Bett und las; sie zog sich sofort an und ging aus dem Haus.
Auf dem Marktplatz stellte sie sich an den Rand der Menschenmenge und versuchte zu hören, was gesprochen wurde. Da vorn sprach jemand, es war Pastor Stahle. Sie erinnert sich nicht mehr an seine Worte. Sie weiß nur noch, dass wenige Meter neben ihm das Mädchen aus dem weißen Haus stand. Dieser Anblick traf sie im ersten Moment wie ein Schock. Lange stand sie da und starrte das Mädchen an; sie hatte das Gefühl, die andere dürfte hier nicht anwesend sein. Später verlor sich dieses Gefühl wieder, und sie empfand, fast gegen ihren Willen, eine heftige Rührung, die sie aber doch unterdrücken konnte. Sie wandte sich ab. »Es war so seltsam, dass wir alle dort standen, dass sie dort stand; weder früher noch später habe ich Ähnliches empfunden. Ich wollte nur noch weinen. Ich hatte … wir alle hatten ein Gefühl der … Zusammengehörigkeit.«
Später sangen sie »Ein’ feste Burg ist unser Gott«. Sie hatte bis dahin nicht gehört, worüber die Menschen miteinander sprachen, aber jetzt sang sie mit. Alle sangen mit lauter und starker Stimme, es war mitten in der Nacht, und alles schien unglaubhaft und unwirklich zu sein: dass dies in Schweden geschah, in Eksjö, im Herbst 1945. Sie sang und sang, und alle anderen sangen, und danach war die Versammlung zu Ende.
Auf dem Heimweg weinte sie ununterbrochen. Sie weinte offen und befreit, versuchte nicht, ihr Gesicht und ihre Tränen zu verbergen. »Es war so merkwürdig, wir fühlten uns auch ein wenig glücklich, weil wir dies hatten erleben dürfen. Ich weinte natürlich über das Schicksal der Balten, aber zugleich war ich glücklich.« Als die Auslieferung später tatsächlich durchgeführt wurde, erlebte sie sie nur noch mit einem Gefühl völliger innerer Leere, mit einem Gefühl der Sehnsucht. Sie weinte wieder viel, aber nicht so sehr über die Balten, obwohl deren Schicksal ihr naheging, sondern aus einem Gefühl heftiger Enttäuschung, weil jetzt etwas vorbei war: sie hatte eine Sekunde lang an einem Gefühl teilhaben dürfen, das nie mehr wiederkehren würde.
Sie war vierundzwanzig Jahre alt, als der Streik begann; die folgende Woche vergaß sie später niemals mehr. Sie spricht lange über das heftige Gefühl der Zusammengehörigkeit oder des Mitgefühls, das ihr in jener Nacht und in mehreren folgenden Nächten die Tränen in die Augen trieb. Die Erinnerung an den Verlust eines Gefühls ist stärker als die Erinnerung an die Balten, und wenn sie darüber spricht, spürt man die Sehnsucht.
Sie war damals vierundzwanzig Jahre alt, und das Gefühl des Dazugehörens sollte nie, nie mehr zu ihr zurückkehren.
12
Die erste Forderung an eine Regierung ist, dass sie praktisch zu denken und zu handeln hat. Ich bin ein großer Freund von Provisorien und von Opportunismus.
Winston S. Churchill
F ür die allermeisten schwedischen Politiker kam der heftige Proteststurm gegen die Auslieferung der Balten völlig unerwartet und überraschend. Vor dem 22. November 1945 hatte es die Auslieferung der Balten als kontroverse Frage nicht gegeben. An diesem Tag aber begannen die Balten um 7 Uhr morgens mit ihrem Hungerstreik. Das politische Problem, das »Auslieferung der Balten« heißen sollte, wurde im selben Augenblick geboren. Vor diesem Augenblick war die Frage nur als rein administrativ, als unbedeutend oder als etwas Selbstverständliches erschienen.
Die Koalitionsregierung trat am 31. Juli ab; danach übernahm ein rein sozialdemokratisches Kabinett die Führung des Staates. Außenminister dieses Kabinetts wurde Östen Undén, Ministerpräsident wurde Per Albin Hansson, Finanzminister Ernst Wigforss. Diese drei Männer spielten in der Folgezeit bei der politischen Beurteilung der Frage eine zentrale Rolle; nach außen hin war es aber Östen Undén, der die Hauptverantwortung trug.
Seine Haltung den baltischen Ländern gegenüber war eigentümlich zweideutig. Am 16. August 1940 hatte er im Reichstag eine Rede gehalten, in der er die Ereignisse im Baltikum analysierte – die Machtübernahme durch die Sowjets in den drei baltischen Staaten. »Es ist natürlich, dass die Ereignisse im Ostseeraum uns hier in Schweden auf ganz besondere Weise angehen« , hatte er gesagt. »Drei ehemals selbständige Staaten
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