Die Ausgelieferten
Augenblick schwer zu sagen, aber vielleicht waren es hundertfünfzig Menschen.
Stahle: – Ich weiß noch, dass fast alle Straßenlaternen auf dem Marktplatz gelöscht waren. Die Stimmung damals in der Dunkelheit vor dem Kirchenportal war ziemlich eigenartig.
Brodin: – Ja, du standst auf der Treppe, und wir anderen standen um dich herum. Ich weiß auch noch, dass wir sangen, natürlich ›Ein’ feste Burg ist unser Gott‹. Ob wir noch andere Lieder gesungen haben, weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich, dass wir alle sehr ergriffen waren.
Stahle: – Ich glaube, es wurden auch ein paar Aufnahmen, Blitzlichtaufnahmen gemacht. Fotos muss es also irgendwo geben …
Brodin: – Du hattest immerhin noch einige Minuten Zeit, eine kurze Ansprache vorzubereiten. Ich erinnere mich noch, dass du, was die Art der Nachrichtenübermittlung betraf, von der Ähnlichkeit mit den Kurieren in alter Zeit sprachst.
Stahle: – Ja.
Brodin: – Ja, wir sangen ›Ein’ feste Burg ist unser Gott‹. Wir sangen mit erstickter Stimme.
Stahle: – Ich weiß noch, dass sich manche Presseorgane über unser nächtliches Zusammentreffen lustig machten, aber diese Journalisten hatten von der Stimmung in Eksjö natürlich keine Ahnung. Wir waren dem Mittelpunkt der Ereignisse ja so nahe.
Brodin: – Ja, man kann sagen, dass es einfaches menschliches Mitgefühl war, was unsere damalige Handlungsweise diktierte.
Stahle: – Außer uns Pfarrern gab es noch andere, die mit den Balten in Berührung kamen. Trotz der Absperrungen und des Stacheldrahts hatten wir das Gefühl, einander sehr nahe zu sein.
Brodin: – Nachdem immer mehr über das Lager bekannt geworden war, brachte bald die ganze Stadt den Männern da draußen großes Mitgefühl entgegen.
Stahle: – Besonderen Ausdruck fand dieses Mitgefühl in den Blumengrüßen, die so massenhaft ins Lager strömten, dass die Blumenläden der Stadt in kurzer Zeit vollständig geräumt waren. Jedem Blumenstrauß wurde ein blau-gelbes Band beigegeben.
Brodin: – Diese Aktion war doch völlig spontan, nicht wahr?
Stahle: – Natürlich.
Brodin: – Ich kann mich nicht erinnern, dass irgend jemand dazu aufgerufen hatte.
Stahle: – Nein, ebenso war es mit den Kerzenspenden. Die Kerzen sollten zur Beleuchtung der Unterkünfte und bei den Gottesdiensten verwendet werden. Ja, so ist es gewesen.
An dem Tag, als die Nachricht vom Beginn des Hungerstreiks der Balten kam, wurde sie vierundzwanzig Jahre alt. Sie wohnte als Untermieterin in einem Zimmer plus Küche in einem Haus in der Villengegend Eksjös, südlich des Lagers. Sie hatte Wein gekauft und ihre Schwester eingeladen. Jetzt saßen sie zusammen und sprachen über die Balten. Sie war jetzt vierundzwanzig Jahre alt.
Sie wusste einiges von dem, was im Lager vorging. Sie war eine der wenigen, die von der Geschichte mit dem Mädchen in dem weißen Haus erfahren hatten. Dieses Haus lag nur etwa fünfzig Meter von ihrer eigenen Wohnung entfernt; im Giebelzimmer wohnte ein zwanzigjähriges Mädchen aus Eksjö. Es wurde mitunter von Deutschen besucht, die ein bestochener schwedischer Wachposten aus dem Lager schmuggelte. Im August und im September hatte sie dies Treiben aus nächster Nähe beobachten können: am Fenster stehend, konnte sie sehen, wie das Licht in dem weißen Haus an- und ausging, wie das Haus schließlich dunkel blieb. Ende September wurde der Posten entlarvt; er hatte mit Fotoapparaten, Feldstechern und mit dem Mädchen einen schwunghaften Tauschhandel betrieben. Eines Tages hatte er eine MPi an die Deutschen verkauft, die bei einer Visitation entdeckt worden war; damit flog die ganze Geschichte auf.
Sie gibt die Episode ohne einen Anflug von Moralisieren wieder, jedoch mit eigentümlicher Schärfe und Deutlichkeit.
Sie selbst hatte Eksjö als eine Stadt ohne Gefühle erlebt, aber die Ereignisse in Ränneslätt schienen während einiger Wochen alles zu verändern.
»Früher sprachen die Leute hier nie miteinander, es war so trist und langweilig. Jeder blieb für sich, man fror, und nach Arbeitsschluss gab es nichts, was man tun konnte.« Als die Nachricht von der Auslieferung bekannt wurde, veränderte sich alles. Es war, als hätte man einen Magneten in ein Feld von Eisenspänen gelegt; alle wurden angerührt, es entstanden Muster, es bildete sich ein Mittelpunkt für die Gefühle aller. Die Leute begannen, miteinander zu sprechen, es wurden Vorschläge gemacht, plötzlich war ein Gefühl da,
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