Die Ausgelieferten
aber bald in ein furchtbares Parteienunwesen ab, das schließlich zur Diktatur führte.
Es ist eine Tatsache, dass kleinere Staaten, so auch Finnland, von einflussreicher Seite, nämlich England, damals gewarnt wurden, ihr Schicksal zu eng mit dem der baltischen Republiken zu verknüpfen, und zwar gerade wegen der ungewissen Zukunft dieser Länder. Und wie sieht die Welt heute aus? Die friedliebenden, demokratischen Vereinigten Staaten von Amerika brauchen um ihrer Sicherheit willen Militärstützpunkte auf Island. Glaubt denn jemand, dass die USA sich der Schaffung sowjetischer Militärbasen in Estland, Lettland und Litauen widersetzen kann? Wird Großbritannien wegen der Souveränität der baltischen Staaten einen dauernden Konfliktzustand mit der Sowjetunion in Kauf nehmen? Man könnte sagen: ja, die Hoffnungen dieser Patrioten mögen vielleicht illusorisch sein, aber dann haben sie auch keine Zukunft mehr, dann ist das Leben nicht mehr lebenswert, und es wird besser sein, die einmal eingeschlagene Linie bis zum Ende weiterzuverfolgen.
Es lässt sich aber auch eine andere Politik denken, eine andere Form des baltischen Patriotismus. Man könnte sagen, dass die Selbständigkeit der zwanzig Jahre trotz allem nur ein kurzer Augenblick im Leben dieser Länder gewesen ist. Ist diese Einsicht nicht ein Anlass, die andere politische Linie in Erwägung zu ziehen, nämlich eine Anerkennung des neuen Russlands und der Staatsform, die den baltischen Staaten nach dem Anschluss an die Republiken der Sowjetunion zuteil geworden ist? Diese Politik wird für manche Einzelpersonen natürlich unannehmbar sein, besonders für solche, die in früherer Zeit politisch sehr aktiv gewesen sind, aber wäre sie für die große Masse der baltischen Völker, für die breiten Schichten nicht möglich und akzeptabel?
Von diesem Gedankengang zur vorliegenden Frage zurückkehrend, möchte ich den baltischen Politikern zurufen: wäre es nicht klug gewesen, den nunmehr internierten Balten zu sagen, hier habt ihr eine Chance? Wenn sie nun in ihre Heimatländer zurückkehren, könnten sie ja den russischen Behörden gegenüber erklären, sie hätten im guten Glauben gehandelt, es sei ihre patriotische Pflicht gewesen, der deutschen Wehrmacht beizutreten. Ferner könnten sie sagen, in manchen Fällen seien sie zum Dienst unter den Deutschen gezwungen worden, und sie hätten es nicht für ratsam gehalten, den Widerstand auf die Spitze zu treiben – wiederum aus einem patriotischen Pflichtgefühl heraus oder aus Rücksicht auf ihre Nächsten oder sich selbst. Wir haben von seiten der schwedischen Regierung versucht, diese Argumentation der sowjetischen Gesandtin nahezubringen, und sie hat versprochen, unsere Ansicht der russischen Regierung in Moskau vorzutragen.
Nun hat man statt dessen diese Internierten in einen Zustand der – wie ich es nennen möchte – Exaltation versetzt, und es wird unter ihnen nur noch von dem Terror gesprochen, der sie erwartet, und von der Unannehmbarkeit eines Zusammenlebens mit den Russen in einem Staat und so weiter. Man scheint hierzulande vergessen zu haben, dass die gewaltige Sowjetunion aus einer Menge mehr oder weniger ausgeprägter Nationen besteht, die miteinander leben können und die den Zusammenschluss in einer gemeinsamen Union nicht für unzumutbar halten. Es ist ja nicht Sache der schwedischen Regierung, die Politik der Balten zu artikulieren. Aber als die schwedische Regierung früher wiederholt die Hoffnung ausdrückte, es möchten sich viele Balten zu einer freiwilligen Rückkehr in ihre jeweiligen Heimatländer entschließen, lag dieser Hoffnung natürlich der Gedanke zugrunde, den ich soeben dargelegt habe, nämlich dass es im eigenen, wohlverstandenen Interesse der baltischen Völker liegt, wenn möglichst viele in ihre Heimat zurückkehren, um am Aufbau einer neuen Zukunft für diese Völker mitzuwirken.«
Die Debatte in der zweiten Kammer zog sich lange hin.
Nachträglich scheinen viele Diskussionsbeiträge von diesem Tag auf tönernen Füßen zu stehen, da so viele Einzelfragen ungeklärt oder unbekannt waren. Es wurde behauptet, dass viele der Internierten Zivilisten und dass manche Kriegsverbrecher seien, es wurde eine individuelle Prüfung gefordert, wobei darauf hingewiesen wurde, dass die Westalliierten entsprechende Soldatengruppen ausgeliefert beziehungsweise nicht ausgeliefert hätten, es wurden nicht kontrollierbare russische Rundfunksendungen erwähnt, in denen den Internierten der
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