Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
sicher beschäftigt sein. Ihr Herz pochte, und die Sehnsucht schnürte ihr die Kehle zu. Fast ein Jahr hatte sie ihn nun nicht gesehen, eine unerträglich lange Zeit.
Sollte sie? Schicklich war es nicht. Sie schaute sich kurz um, konnte aber kein bekanntes Gesicht erkennen. Ihre Röcke waren schnell gerafft, die Stelling, die an Deck führte, war dünn und wackelig. Aber das sollte sie nicht aufhalten, nichts sollte sie jetzt noch aufhalten, endlich war die »Lessing« da.
»Gnädiges Fräulein?«, rief Tine entsetzt. »Was macht Ihr denn da?«
Emilia sah sich nur kurz um, beschritt dann das Fallreep und ging weiter. Karamell war ihr schon vorausgeeilt.
Wenn der Hund das kann, dachte sie und bemühte sich, das Gleichgewicht auf dem Brett zu halten, dann kann ich das auch. Aber wie steige ich an Bord, ohne zu unschicklich zu sein?
Sie hatte Glück, die Verschanzung war zum Teil abgebaut worden, Emilia kam an Deck, ohne über irgendwelche Planken klettern zu müssen. Auf dem Schiff sah es anders aus, jetzt, nach der langen Fahrt und in Gebrauch. Überall standen Sachen – Eimer, Kisten, Kästen, Fässer. Es war ein Gewusel wie in einem Ameisenhaufen, in den man einen Stock gesteckt hatte. Laute Rufe schollen über das Deck. Die Mannschaft eilte von hier nach dort.
Doch wo war Carl? Emilia sah sich unsicher um. Und dann entdeckte sie ihn. Er sprach mit einem Herrn, der sorgsam gekleidet war, vermutlich einer der Schifffahrtsagenten, die die Ladung bestellt hatten.
Sollte, durfte, konnte sie stören? Würde es Carl peinlich sein, dasssie einfach so an Bord gekommen war? Sie wusste es nicht und eine große Unsicherheit erfasste sie.
Carl Gotthold Lessing schaute plötzlich auf, ließ seinen Blick über das Schiff streifen und erblickte Emilia. Für einen Moment sah er sie an, als wäre sie eine Erscheinung, dann eilte er auf sie zu und blieb kurz vor ihr stehen.
Es schien ihr, als sei er in den Monaten gewachsen. Sein Gesichtsausdruck war noch ernster, seine Haare lang und der Bart struppig. Er hielt sich aufrecht, auch wenn ihm die Müdigkeit anzusehen war. Seine Haut war gegerbt, wie Rindsleder, aber die Augen strahlten hell.
»Emma.«
»Ja …«, sie wusste nicht mehr zu sagen. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen, hätte ihn fühlen und spüren, festhalten und nie wieder gehen lassen wollen. Doch Zweifel beschlichen sie. Was, wenn er nicht so dachte? Was, wenn sie nur die Brieffreundin für ihn war, ein Zeitvertreib für endlos lange und einsame Abende auf dem Meer?
Emilia hielt die Luft an. Carl Gotthold zog die Stirn in Falten, dann nahm er ihre Hand. »Komm«, sagte er und führte sie in die Kajüte im Heck.
Sie bekam fast Schluckauf vor Aufregung. Würde er sie jetzt zurechtweisen, sie von Bord schicken? Natürlich hatte sie zu impulsiv gehandelt und bereute es nun fast. Im »Salon« der Kajüte roch es nach Zwiebeln und Knoblauch und nach etwas, was sie nicht zuordnen konnte. Ein scharfes Gewürz? Der Tisch lag voller Sachen und es herrschte ein heilloses Durcheinander.
Er drehte sich zu ihr um, hielt ihre Hand fest.
»Emma.« Carl schüttelte den Kopf. »Was … machst du nur hier?«
In den letzten Briefen hatten sie sich persönlich angeredet, auf die steife und schickliche Anrede verzichtet. Aus seinem Mund klang »Emma« und »du« noch einmal anders, persönlicher. Ihr wurde ganz warm ums Herz.
»Ich … ich konnte nicht erwarten … dich wiederzusehen.«
Sie schauten sich an, ihre Blicke tauchten ineinander, dann fielen sie sich um den Hals, pressten die Lippen aufeinander.
Sein Bart muss gestutzt werden, dachte Emilia kurz, und er braucht ein Bad, aber dann versank sie in dem Gefühl, ihn endlich festhalten zu können, ihn zu spüren, seine Wärme und Nähe.
»Emma …«, atemlos schob er sie weg, sah sie an. »Unser Wiedersehen habe ich mir wieder und wieder erträumt und vorgestellt, aber das übertrifft all meine Erwartungen.«
»Ach, Carl … ich habe gestern ein Segel fern in der Elbe gesehen und so sehr gehofft, dass es die ›Lessing‹ ist. Immer wieder bin ich voller Hoffnung zum Hafen gegangen und nun … nun bist du endlich tatsächlich da.« Sie drückte sich an ihn, hielt ihn fest, als wolle sie ihn nie wieder loslassen. Dann hob er ihr Kinn und küsste sie wieder. Diesmal störten sie der stachelige Bart und der Geruch nicht, sie ließ sich einfach fallen.
»Gnädiges Fräulein?«, erklang plötzlich die Stimme von Tine. »Wo seid Ihr?«
Carl sah sie
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