Die Auswahl. Cassia und Ky
sei der Unterricht das Faszinierendste auf der Welt. Seine Finger hämmern auf den Automaten ein, und mit einem Fuß wippt er ungeduldig, immer bereit, noch mehr zu lernen. Es ist schwer, mit ihm mitzuhalten – er ist so klug, er lernt unheimlich schnell. Angenommen, er erhält bald seine Festanstellung und ich bleibe allein zurück?
Die Ereignisse überstürzen sich. Der Weg zu meinem siebzehnten Geburtstag glich einem gemächlichen Spaziergang, bei dem ich einen Fuß vor den anderen setzte und jedes Blatt und jeden Kieselstein wahrnehmen konnte, ein Spaziergang voller angenehmer Langeweile und erwartungsvoller Vorfreude auf die Zukunft. Jetzt dagegen fühlt es sich an, als würde ich diesen Weg entlangrennen, in voller Geschwindigkeit und mit lautem Keuchen. Im Nu wird es so weit sein, dass ich meinen Arbeitsvertrag erhalte. Wird mein Leben sich irgendwann einmal wieder verlangsamen?
Ich wende meinen Blick von Xander ab.
Selbst wenn Xander seinen Beruf vor mir antritt, sind wir immer noch gepaart
, erinnere ich mich. Er wird mich nicht alleinlassen. Er weiß nicht, dass ich an jenem Tag Kys Gesicht auf dem Bildschirm gesehen habe.
Wenn ich es Xander erzählte, würde er es verstehen? Ich glaube schon. Er würde unsere Paarung nicht infrage stellen, oder unsere Freundschaft. Dennoch will ich weder das eine noch das andere aufs Spiel setzen.
Ich schaue wieder zur Lehrerin. Durch das Fenster hinter ihr sehe ich den dunklen Himmel, der mit dicken, niedrighängenden Wolken bedeckt ist. Ich versuche, mir auszumalen, wie sie von der Kuppe des Hügels aus aussehen. Kann man eigentlich so hoch klettern, dass man irgendwann die Wolkendecke durchbricht, um dann von einem Platz an der Sonne aus hinunter auf den Regen zu blicken?
Unwillkürlich stelle ich mir Ky oben auf dem Berg vor, das Gesicht der Wärme zugewandt. Ich schließe für einen Augenblick die Augen und versetze mich auch dorthin.
Mitten im Unterricht bricht plötzlich das Gewitter los. Ich stelle mir vor, wie der Regen auf die Grünfläche fällt, wo ich mich mit der Funktionärin getroffen habe, wie er den Brunnen überfließen lässt und auf die Bank prasselt, auf der ich gesessen habe. Ich bilde mir ein, das Klatschen der Tropfen zu hören, als sie auf das Metall treffen, ihr Seufzen, wenn sie auf das Gras und die Erde fallen. Draußen ist es finster wie am Abend. Der Regen strömt über das Dach und dann die Regenrinne hinunter. Das einzige Fenster unseres Klassenzimmers ist von einem Regenfilm bedeckt, und wir können vor lauter Wassermassen gar nichts mehr erkennen. Plötzlich erinnere ich mich an eine Zeile aus dem anderen Gedicht von diesem Tennyson:
Auch wenn die Flut fern hinweg mich tragen mag.
Wenn ich die Gedichte von Großvater aufbewahrt hätte, würde ich auf einer Flutwelle treiben, die ich nicht aufhalten könnte. Ich tat, was ich tun musste – es war richtig so. Doch es ist mir, als ob der Regen draußen meine Erleichterung wegspült und nichts als Bedauern zurücklässt: Die Gedichte sind fort, und ich kann sie nie wieder zurückholen.
KAPITEL 12
A n diesem Abend haben wir zur Abwechslung mal eine interessante Sortieraufgabe. Sogar Norah ist ganz aufgeregt, als sie mir die Details erklärt. »Wir suchen nach verschiedenen körperlichen Merkmalen für einen Paarungspool«, sagt sie. »Augenfarbe. Haarfarbe. Größe und Gewicht.«
»Wird die Paarungsbehörde unsere Sortierung berücksichtigen?«, frage ich.
Sie lacht. »Natürlich nicht. Es ist nur eine Übung. Sie dient dazu festzustellen, ob du Muster in den Partnerdaten erkennst, die die Funktionäre bereits registriert haben.«
Natürlich.
»Und noch etwas«, fügt Norah hinzu. Sie senkt die Stimme, aber nicht weil sie mir ein Geheimnis erzählt, sondern weil sie die anderen nicht bei der Arbeit stören möchte. »Die Funktionäre haben mir mitgeteilt, dass sie deinen nächsten Test persönlich überwachen werden.«
Das ist ein gutes Zeichen. Das bedeutet, dass sie sich persönlich davon überzeugen wollen, ob ich unter Druck gut arbeiten kann. Das wiederum heißt, dass ich eventuell für einen der interessanteren Berufe infrage komme, der mit Sortieren zu tun hat.
»Weißt du schon, wann?«
Sie weiß es, das sehe ich ihr an, sie darf es aber nicht sagen. »Schon bald«, antwortet sie ausweichend und lächelt mich ausnahmsweise einmal an. Sie wendet sich wieder ihrem Bildschirm zu, und ich gehe zu meinem Arbeitsplatz, damit ich pünktlich anfangen kann.
Das ist
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