Die Auswahl. Cassia und Ky
Zeit.
Ich greife in meine Tasche und hole das Blatt Papier heraus, das Großvater mir gegeben hat. Ich lasse es los.
Für einen Moment tanzt es in der Luft, bevor es ebenfalls hinuntersinkt. Ein frischer Windstoß kann es fast retten, doch ein Arbeiter entdeckt es und hebt die Röhre, um das Papier aus der Luft, die Wörter vom Himmel zu saugen.
Es tut mir leid, Großvater.
Ich bleibe stehen und sehe zu, bis alle Knochen in die Verbrenner geschaufelt und alle Wörter zu Asche geworden sind.
Ich habe mich zu lange an der Bibliotheksbaustelle aufgehalten und komme beinahe zu spät zur Schule. Xander erwartet mich vor dem Haupteingang.
Er öffnet eine der Türen für mich und hält sie mir mit der Schulter auf. »Wie geht es dir?«, fragt er leise, als ich mitten auf der Schwelle stehen bleibe.
»Hallo, Xander«, rufen ihm ein paar Leute zu. Er nickt in ihre Richtung, ohne den Blick von mir abzuwenden.
Einen Moment lang überlege ich, ob ich Xander alles erzählen soll. Nicht nur von den Funktionären gestern Abend, über die er sich bestimmt Sorgen gemacht hat, sondern
alles
: von Kys Gesicht auf dem Bildschirm, von Ky im Wald und davon, dass er gesehen hat, wie ich das Gedicht gelesen habe. Ich sollte Xander von dem Gedicht selbst erzählen und wie es sich angefühlt hat, es loszulassen. Stattdessen schüttele ich den Kopf. Ich will jetzt nicht reden.
Xander wechselt das Thema, und seine Augen leuchten auf. »Fast hätte ich es vergessen. Ich muss dir etwas erzählen. Es gibt eine neue Samstagsaktivität.«
»Wirklich?«, frage ich und bin dankbar, weil er so verständnisvoll reagiert und mich nicht weiter bedrängt. »Gibt es eine neue Vorführung?«
»Nein, noch besser. Wir dürfen die Blumenbeete vor der Grundschule neu bepflanzen und draußen zu Abend essen. Wie bei einem – wie heißt es noch gleich? – wie bei einem Picknick. Anschließend bekommen wir sogar Eis!«
Die Begeisterung in Xanders Stimme bringt mich zum Lachen. »Ach, Xander, das ist doch nichts als ein besseres Arbeitsprojekt. Die brauchen ein paar Gratis-Arbeitskräfte und locken uns mit Eiscreme.«
Er grinst mich an. »Ich weiß, aber es tut gut, mal etwas anderes zu unternehmen. So bleibe ich fit für die nächsten Spiele. Du möchtest doch auch mitmachen, oder? Die Plätze sind bestimmt schnell besetzt, deswegen habe ich dich schon mal eingetragen.«
Ein winziger Funken Ärger flammt in mir auf, weil er mich eingetragen hat, ohne mich vorher zu fragen, aber dieser erlischt fast sofort wieder, als er verlegen lächelt. Er weiß, dass er eine Grenze überschritten hat – vor unserer Paarung hätte er so etwas niemals getan –, doch die Tatsache, dass er deswegen verlegen reagiert, versöhnt mich wieder. Und selbst wenn es nur ein besseres Arbeitsprojekt ist: Ich hätte mich auch sofort eingetragen. Xander weiß das. Er kennt mich, und er kümmert sich um mich.
»Prima«, sage ich zu Xander. »Danke.« Er lässt die Tür los, und wir gehen gemeinsam den Flur entlang. Im Stillen frage ich mich, was Ky heute Abend wohl tut. Auf der Arbeit erfährt man nicht, welche Freizeitaktivitäten kurzfristig angeboten werden. Bis er nach Hause kommt und es herausfindet, werden bestimmt alle Plätze besetzt sein, weil die Aktivität neu ist und es Eiscreme gibt. Wir könnten ihn allerdings mit eintragen. Ich könnte zu einem der Terminals hier in der Schule gehen und …
Keine Zeit mehr. Der Unterricht beginnt. Durch die Lautsprecher ertönt der Gong.
Xander und ich schlüpfen durch die Klassenzimmertür, rutschen auf unsere Stühle und nehmen unsere Lesegeräte und Schreibautomaten zur Hand. Normalerweise sitzt Piper in Angewandte Wissenschaften neben uns, aber ich sehe sie nicht. »Wo ist Piper?«
»Ich wollte es dir schon erzählen. Sie hat heute ihre endgültige Arbeitsstelle bekommen.«
»Ach wirklich? Was ist es denn?«
Doch der Gong ertönt wieder, und ich muss mich nach vorn wenden und meine Neugier bis zum Ende des Unterrichts zügeln. Piper hat ihren Beruf! Einige Schüler erhalten ihn sehr früh, wie Ky, doch normalerweise werden wir irgendwann im Laufe des Schuljahres nach unserem siebzehnten Geburtstag eingeteilt. Einer nach dem anderen werden wir herausgepickt, bis niemand unseres Jahrgangs auf der Höheren Schule mehr übrig ist.
Ich hoffe, dass Xander und Em noch lange nicht eingeteilt werden. Ohne sie wäre es hier nicht mehr dasselbe, besonders ohne Xander. Ich blicke zu ihm hinüber. Er sieht die Lehrerin an, als
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