Die Auswahl. Cassia und Ky
vielversprechend
, denke ich. Denn wenn es mir gelingt, die Funktionäre zu beeindrucken, bekomme ich vielleicht eine hohe Position. Alles wird wieder gut. Ich werde nicht mehr über Großvater, das verlorene Probenröhrchen, die verbrannten Gedichte oder meinen Vater und die Funktionäre nachdenken. Oder daran, dass Ky niemals gepaart werden wird oder irgendwo anders arbeiten kann als in der Nahrungsentsorgung. Über nichts von alldem werde ich mir Gedanken machen. Es ist an der Zeit, einen klaren Kopf zu bewahren und mich auf das Sortieren zu konzentrieren.
Es ist wirklich erstaunlich. Wenn man nach Augenfarben sortiert, erkennt man plötzlich, wie begrenzt die Möglichkeiten tatsächlich sind: Es gibt nur ganz wenige Optionen. Blau, braun, grün, grau in verschiedenen Abstufungen – das sind alle existierenden Varianten, obwohl unsere Bevölkerung eine breite Vielfalt von Ethnien aufweist. Vor langer Zeit gab es genetische Mutationen, zum Beispiel Albinos, aber sie existieren nicht mehr. Bei der Haarfarbe ist die Auswahl ähnlich begrenzt: schwarz, braun, blond, rot.
So wenige Unterschiede, und trotzdem kommt man auf eine unendliche Zahl von Kombinationen. Zum Beispiel haben zahlreiche junge Männer in dieser Datenbank blaue Augen und dunkle Haare wie Ky, aber trotzdem bin ich mir sicher, dass keiner von ihnen ihm ähnlich sieht. Und selbst wenn es jemanden gäbe, der ihm genau gliche, oder wenn er irgendwo einen Zwilling hätte, könnte niemand sonst diese Kombination von Lebhaftigkeit und Beherrschung, von Offenheit und Verschlossenheit besitzen wie Ky. Immer wieder sehe ich sein Gesicht vor mir, aber ich weiß, dass das nicht mehr der Fehler der Gesellschaft ist. Es ist meiner. Ich denke andauernd an ihn, obwohl ich eigentlich an Xander denken sollte.
Der winzige Drucker piept, und ich fahre vor Schreck zusammen.
Ich habe einen Fehler gemacht und meinen Irrtum nicht in einem angemessenen Zeitrahmen berichtigt. Ein kleiner Streifen Papier rollt sich auf dem Tisch neben mir auf. Ich hebe ihn auf und lese, was darauf steht. »Fehler in Zeile 3568.« Ich mache fast nie Fehler, deswegen wird dieser hier meinen Beobachtern auffallen. Ich gehe zurück in die Zeile, in der mir der Fehler unterlaufen ist, und korrigiere ihn. Wenn das nächste Woche passiert, während die Funktionäre zusehen …
Aber es wird nicht passieren. Das werde ich nicht zulassen. Doch ehe ich mich wieder auf das Sortieren konzentriere, erlaube ich mir, für einen kurzen Moment an Kys Augen und an seine Hand auf meinem Arm zu denken.
»Jemand hat mir erzählt, dass heute ein Mädchen in deinem Alter zur Baustelle gekommen ist«, sagt mein Vater, der mich an der Airtrainhaltestelle erwartet hat. Hin und wieder holt er Bram oder mich ab, damit wir ein wenig Zeit zu zweit verbringen können, ehe wir nach Hause kommen. »Warst du das?«
Ich nickte. »Das Wandern wurde wegen des Regens abgesagt, deswegen wollte ich dich vor der Schule kurz besuchen. Weil wir uns heute Morgen verpasst haben. Aber du warst so beschäftigt, und ich hatte nicht viel Zeit. Es tut mir leid, dass ich nicht bleiben konnte.«
»Du kannst mich gerne wieder besuchen kommen, wenn du möchtest«, sagt er. »Die ganze nächste Woche bin ich im Büro. Die Fahrt dorthin ist viel kürzer.«
»Ich weiß. Vielleicht komme ich mal vorbei.« Meine Antworten klingen ein wenig distanziert, und ich hoffe, er bemerkt nicht, dass ich immer noch ein bisschen sauer auf ihn bin, weil er die Probe verloren hat. Ich weiß, es ist nicht fair, und er grämt sich selbst genug deswegen, aber trotzdem ärgere ich mich. Ich vermisse meinen Großvater, und ich habe mich an die Probe geklammert und an die Hoffnung, dass er vielleicht eines Tages zurückkehrt.
Mein Vater bleibt stehen und sieht mich an. »Cassia. Wolltest du mich vielleicht etwas fragen? Oder mir etwas sagen? Bist du deswegen zur Baustelle gekommen?«
Sein liebes Gesicht, das dem von Großvater so sehr ähnelt, sieht besorgt aus. Ich muss es ihm sagen.
»Großvater hat mir ein Blatt Papier gegeben«, sage ich, und mein Vater wird sofort blass. »Es war in meiner Puderdose. Es standen komische Wörter darauf –«
»Pssst!«, macht mein Vater. »Warte.«
Ein Pärchen kommt auf uns zu. Wir lächeln, grüßen und lassen sie auf dem Bürgersteig zwischen uns hindurchgehen. Als sie weit genug weg sind, bleibt mein Vater noch einmal stehen. Wir sind zu Hause angekommen, aber ich verstehe, dass er diese Unterhaltung nicht im
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