Die Auswahl. Cassia und Ky
ich kenne niemanden, der mit Sicherheit sagen kann, was genau es mit den roten Tabletten auf sich hat. Seit Jahren kursieren Gerüchte darüber.
Ich lege mich ins Bett und schiebe die Gedanken an die rote Tablette beiseite. Zum ersten Mal in meinem Leben ist es mir erlaubt, von Xander zu träumen.
KAPITEL 3
I ch frage mich oft, wie meine Träume wohl auf Papier aussehen, als Zahlencodes verschlüsselt. Irgendjemand da draußen weiß es, aber ich nicht.
Vorsichtig ziehe ich mir die Schlaf-Elektroden von der Haut. Vor allem an der Stelle hinter dem Ohr passe ich auf. Dort ist meine Haut dünn und sehr empfindlich. Es schmerzt jedes Mal, wenn ich das runde Plättchen abziehe, besonders wenn ein, zwei Haarsträhnen am Haftmittel kleben bleiben. Froh, dass ich es hinter mir habe, lege ich die Ausrüstung zurück in ihre Schachtel. Nächste Nacht ist Bram an der Reihe.
Ich habe nicht von Xander geträumt. Keine Ahnung, warum.
Aber ich habe lange geschlafen, und wenn ich mich nicht beeile, komme ich zu spät zur Arbeit. Als ich in die Küche komme, das Kleid von gestern Abend über dem Arm, sehe ich, dass meine Mutter schon die Frühstückslieferung ausgepackt hat. Haferbrei, gräulich-braun, wie erwartet. Wir essen für unsere Gesundheit und Leistungsfähigkeit, nicht zum Genuss. Feiertage und Feste sind Ausnahmen. Weil unsere Kalorien die ganze Woche über reduziert worden sind, konnten wir gestern auf dem Bankett so viel essen, wie wir wollten, ohne Folgen für unsere Bilanz.
Bram grinst mich frech an, immer noch im Schlafanzug. »Also«, sagt er, während er sich den letzten Löffel Haferbrei in den Mund schiebt, »hast du verschlafen, weil du von Xander geträumt hast?«
Er braucht nicht zu wissen, dass er beinahe ins Schwarze getroffen hat und dass ich gern von Xander geträumt hätte. »Nein«, erwidere ich, »und was ist mir dir? Kommst du nicht schon wieder zu spät zur Schule?«
Bram ist noch so klein, dass er samstags noch zur Schule anstatt zur Arbeit geht. Wenn er sich nicht beeilt, kommt er zu spät. Schon wieder. Hoffentlich bekommt er keinen Eintrag.
»Bram!«, mahnt meine Mutter. »Bitte zieh dich jetzt an!«
Wie erleichtert sie sein wird, wenn Bram endlich in die Höhere Schule geht, wo der Unterricht eine halbe Stunde später beginnt!
Während Bram aus dem Zimmer schlurft, greift meine Mutter nach dem Kleid und hält es in das Licht, das zur offenen Tür hereinfällt. »Du hast wunderschön ausgesehen gestern Abend! Ich bringe es gar nicht gern zurück.« Gemeinsam betrachten wir das Kleid und bewundern, wie der Stoff im Licht schimmert und glänzt, fast so, als seien Licht und Stoff lebendig.
Wir seufzen gleichzeitig und brechen dann in Gelächter aus. Meine Mutter küsst mich auf die Wange. »Man wird dir ein Stoffmuster davon schicken, weißt du noch?«, fragt sie, und ich nicke. Die Stoffprobe und das Silberkästchen, in dem der Mikrochip liegt, werden meine Erinnerungsstücke an mein Paarungsbankett sein.
Und trotzdem.
Dieses
Kleid, mein grünes Kleid, werde ich nie wiedersehen. In dem Moment, in dem ich es das erste Mal erblickt hatte, wusste ich sofort, dass es das war, was ich wollte. Als ich meine Auswahl traf, lächelte die Frau im Verteilerzentrum, nachdem sie die Nummer – dreiundsiebzig – in den Computer eingegeben hatte. »Dieses war deine wahrscheinlichste Wahl«, sagte sie. »Deine persönlichen Daten haben darauf hingedeutet, aber auch die ganz normale Psychologie. In der Vergangenheit hast du immer Dinge gewählt, die nicht dem Durchschnittsgeschmack entsprachen. Außerdem mögen Mädchen Kleider, die die Farbe ihrer Augen betonen.«
Ich lächelte und beobachtete, wie sie ihre Assistenten in den Lagerraum schickte, um das Kleid zu holen. Als ich es anprobierte, sah ich, dass sie recht hatte. Das Kleid war wie gemacht für mich. Die Falten fielen perfekt, und es betonte meine Taille. Ich drehte mich vor dem Spiegel und bewunderte mich.
Die Frau erklärte weiter: »Bisher bist du das einzige Mädchen, das dieses Kleid beim Paarungsbankett in diesem Monat tragen wird. Das beliebteste Kleid ist eines der rosafarbenen, die Nummer zweiundzwanzig.«
»Wunderbar«, antwortete ich. Mir macht es nichts aus, ein
bisschen
aufzufallen.
Bram erscheint wieder in der Tür, in zerknittertem Zivil und mit strubbeligen Haaren. Ich weiß, was meine Mutter jetzt denkt: Ist es besser, ihm die Haare zu kämmen und ihn zu spät kommen zu lassen, oder ihn loszuschicken, wie er ist?
Bram
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