Die Auswahl. Cassia und Ky
Datenzentrum. Als ich an den anderen Bürokabinen vorbeigehe, fällt mein eigener Schatten auf die Plätze. Keiner schaut auf.
Ich schlüpfte in mein winziges Abteil, das gerade breit genug für einen Tisch, einen Stuhl und einen Sortierbildschirm ist. Die dünnen grauen Wände ragen neben mir auf, von meinem Platz aus kann ich meine Kollegen nicht sehen. Wir gleichen den Mikrochips in der Recherchebibliothek der Schule – jeder von uns steckt ordentlich in seinem Fach. Die Regierung besitzt natürlich Computer, die das Sortieren viel schneller erledigen als wir, aber wir sind trotzdem noch wichtig. Man weiß nie, ob die Technik einmal versagt.
Das ist der Gesellschaft vor der unseren passiert. Jeder hatte Technologie, viel zu viel, und die Konsequenzen waren zerstörerisch. Inzwischen besitzen wir nur noch die Basistechnologien, die wir wirklich brauchen – Kartensteckplätze, Lesegeräte, Schreibcomputer – und nehmen selbst auch nur die Informationen auf, die für uns relevant sind. Ernährungsspezialisten müssen nicht wissen, wie man Airtrains programmiert, und Sortierer müssen keine Krankheiten erforschen können. Diese Art der Spezialisierung verhindert, dass die Köpfe der Menschen zu sehr überfrachtet werden. Wir müssen nicht
alles
verstehen. Außerdem erinnert uns die Gesellschaft daran, dass ein Unterschied zwischen Wissen und Technologie besteht. Unser Wissen kann uns nicht im Stich lassen.
Ich schiebe meine Scancard ein und das Sortieren beginnt. Obwohl ich am liebsten Wortgruppen, Bilder oder Sätze sortiere, bin ich auch gut in Zahlen. Auf dem Bildschirm wird mir die Anweisung erteilt, bestimmte Muster zu finden, und schon wandern die Zahlen über den Monitor wie kleine weiße Soldaten auf einem schwarzen Feld, die nur darauf warten, dass ich sie niedermähe. Ich berühre die einzelnen Zahlen und ziehe sie in verschiedene Ordner. Wenn ich den Bildschirm berühre, gibt es jedes Mal ein leises Geräusch, fast wie fallender Schnee.
Und dann erschaffe ich einen Sturm. Die Zahlen fliegen an die richtige Stelle wie vom Wind verwehte Flocken.
Mitten in der Arbeit ändert sich plötzlich das Muster, nach dem wir suchen sollen. Das System registriert, wie schnell wir die Änderungen bemerken und unsere Arbeit anpassen. Nie wissen wir, wann eine solche Änderung eintritt. Zwei Minuten später ändert sich das Muster wieder und wieder bemerke ich es schon in der ersten Zahlenreihe. Warum, weiß ich nicht, aber ich ahne den Musterwechsel jedes Mal voraus.
Wenn ich sortiere, kann ich mich nur auf das konzentrieren, was sich vor meinen Augen abspielt. Daher denke ich dort in meiner kleinen grauen Kabine gar nicht an Xander. Ich sehne mich nicht nach dem Gefühl des grünen Satins auf meiner Haut oder dem Geschmack von Schokoladenkuchen auf meiner Zunge. Und ich denke nicht an Großvater, der beim Abschiedsbankett seine letzte Mahlzeit zu sich nehmen wird. Ich denke nicht an Schnee im Juni und andere Dinge, die nicht wahr sein können und es dennoch irgendwie sind. Ich denke weder an die blendende Sonne noch an den kühlenden Mond und auch nicht an den Ahornbaum in unserem Garten, der sich golden, grün und rot färbt. Über all das und mehr werde ich später nachdenken. Nicht beim Sortieren.
Ich sortiere, sortiere und sortiere, bis keine Daten mehr für mich übrig sind. Mein Bildschirm ist leer. Diesmal bin ich diejenige, die ihn dunkel werden lässt.
Als ich mit dem Airtrain in die Ahorn-Siedlung zurückfahre, sind keine Pappelsamen mehr zu sehen. Ich nehme mir vor, meiner Mutter von ihnen zu erzählen, wenn ich nach Hause zurückkomme, aber sie, mein Vater und Bram sind schon zu ihren Freizeitstunden aufgebrochen. Auf dem Bildschirm blinkt eine Nachricht für mich:
Hallo Cassia, wir sind ein bisschen früher gefahren. Hab einen schönen Abend!
In der Küche ertönt ein Piepgeräusch: Meine Nahrung ist eingetroffen. Der mit Folie versiegelte Behälter gleitet durch die Nahrungslieferungsklappe. Ich hebe ihn schnell auf, so dass ich gerade noch das Geräusch des Ernährungsmobils höre, das die Straße hinter dem Haus entlangrollt.
Das Essen dampft, als ich den Behälter öffne. Wir müssen einen neuen Ernährungsleiter haben. Bis gestern ist das Essen immer lauwarm gewesen, wenn ich nach Hause gekommen bin, jetzt ist es dampfend heiß.
Ich verbrenne mir den Mund, so schnell esse ich, denn ich weiß genau, wie ich die wenige wirklich freie Zeit in diesem fast leeren Haus nutzen will. Ich bin
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