Die Auswahl. Cassia und Ky
dass seine Erklärung durchaus plausibel ist. Pappeln tragen weder Früchte, noch kann man sie zur Brennstoffgewinnung nutzen. Und ihre Samen sind ein Ärgernis. Sie fliegen weit, bleiben an allem hängen und schlagen überall Wurzeln. Unkrautbäume, nennt meine Mutter sie. Dennoch hat sie eine gewisse Schwäche für sie, gerade wegen ihrer Samen, die klein und braun sind, aber von zarter Schönheit umhüllt, nämlich von diesen feinen Baumwollfasern. Kleine, wolkige Fallschirme, die ihren Sturz bremsen und ihnen dabei helfen, im Wind zu schweben und dorthin zu segeln, wo sie wachsen können.
Ich betrachte den Pappelsamen auf meiner Hand. Da ich nicht weiß, was ich damit anfangen soll, stecke ich ihn in meine Tasche zu meinem Tablettenröhrchen.
Der Sommerschnee erinnert mich an ein Gedicht, das wir dieses Jahr im Literaturkurs interpretiert haben:
Innehaltend inmitten der Wälder an einem Schnee-Abend.
Es war eines meiner Lieblingsgedichte von den Hundert Gedichten, die die Gesellschaft aufzubewahren beschlossen hatte, als sie entschied, dass unsere Kultur zu überladen und ungeordnet sei. Damals wurden Kommissionen gebildet, die aus allen Bereichen die hundert besten Werke auswählten:
Hundert Lieder, Hundert Gemälde, Hundert Gedichte. Alle anderen Kunstwerke wurden vernichtet. Zerstört für immer.
Zu unserem Besten
, sagte die Gesellschaft, und alle glaubten es, weil es Sinn machte.
Wie können wir irgendetwas richtig wertschätzen, wenn wir mit zu vielem überschüttet und belastet sind?
Meine Urgroßmutter gehörte zu den Kulturhistorikern, die vor siebzig Jahren halfen, die Hundert Gedichte auszuwählen. Großvater hat mir die Geschichte, wie seine Mutter entscheiden musste, welche Gedichte erhalten und welche für immer zerstört werden sollten, schon tausendmal erzählt. Sie sang ihm abends immer Teile der Gedichte zum Einschlafen vor. Sie flüsterte und sang sie, erzählt er immer, und nachdem sie fortgegangen war, versuchte ich, mich an die Gedichte zu erinnern.
Nachdem sie fortgegangen war.
Morgen wird auch mein Großvater fortgehen.
Nachdem wir die letzten Pappelflocken hinter uns gelassen haben, muss ich an dieses Gedicht denken und daran, wie sehr ich es mag. Besonders gefällt mir, wie die Worte eine Verbindung eingehen und sich wiederholen. Ich finde, dass dieses Gedicht ein gutes Schlaflied wäre, wenn man dem Rhythmus anstatt der Worte lauschte. Denn wenn man auf die Worte hören würde, könnte man nicht so leicht zur Ruhe finden:
Und Meilen gehn, bevor ich schlaf, und Meilen gehn, bevor ich schlaf.
»Heute werden Zahlen sortiert«, erklärt mir Norah, meine Vorgesetzte.
Ich seufze leise, aber Norah reagiert nicht. Wortlos scannt sie meine Karte und gibt sie mir zurück. Sie fragt mich nicht nach meinem Paarungsbankett, obwohl sie durch mein Informations-Update erfahren haben muss, dass es gestern Abend stattgefunden hat. Aber das wundert mich nicht. Norah gibt sich kaum mit mir ab, weil ich eine der besten Sortiererinnen bin. Tatsächlich sind seit meinem letzten Fehler fast drei Monate vergangen und damals hat auch zum letzten Mal eine Art Unterhaltung zwischen uns stattgefunden.
»Warte«, sagt Norah, als ich mich meinem Arbeitsplatz zuwende. »Deine Scancard meldet, dass es bald Zeit für deinen nächsten offiziellen Sortiertest ist.«
»Stimmt«, antworte ich und nicke.
Darüber habe ich schon seit Monaten nachgedacht, zwar nicht so oft wie über das Paarungsbankett, aber schon sehr oft. Obwohl das Zahlensortieren oft langweilig ist, kann eine Stelle als Sortiererin einem den Weg zu wesentlich interessanteren Arbeitsplätzen ebnen. Vielleicht kann ich später bei der Restaurierungsbehörde arbeiten, wie mein Vater, der die Instandsetzung oder Zerstörung alter Gebäude und Viertel überwacht. Als er in meinem Alter war, hat er auch als Informationssortierer gearbeitet, ebenso wie mein Großvater und natürlich meine Urgroßmutter, die an einer der größten Sortiermaßnahmen überhaupt beteiligt war, als sie im Komitee der Hundert saß.
Die Leute, die die Paarung überwachen, haben ebenfalls als Sortierer begonnen, aber ihre Art von Arbeit interessiert mich nicht. Mir sind abstrakte Geschichten und Daten lieber, für echte Menschen möchte ich nicht die Verantwortung übernehmen.
»Sieh zu, dass du gut vorbereitet bist«, ermahnt mich Norah, aber sie und ich wissen, dass ich das bereits bin.
Gelbliches Licht fällt durch die Fenster nahe unserer Arbeitsplätze im
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