Die Auswahl. Cassia und Ky
schließt.
»Gern geschehen«, antwortet er und hält meine Hand noch einen Augenblick länger fest. Das Silberkästchen bildet eine Barriere zwischen uns, während zugleich eine andere Schranke fällt: Seit unserer Kindheit haben wir uns nicht mehr an den Händen gehalten. Indem wir es heute Abend tun, überwinden wir die unsichtbare Grenze, die Freundschaft von tieferen Gefühlen trennt. Ich fühle ein Kribbeln, das sich von meiner Hand aus in meinem Arm ausbreitet. Von ihrem Partner berührt zu werden ist ein Luxus, den die anderen Paare des Banketts heute nicht haben können.
Der Airtrain trägt uns fort von den glitzernden, eisigweißen Lichtern der Stadthalle und bringt uns hinaus in die Vorstadt, wo Verandalampen und Straßenlaternen ein weicheres Licht verbreiten. Während auf unserer Fahrt zur Ahorn-Siedlung vor dem Fenster die Straßen vorbeisausen, betrachte ich Xander verstohlen. Das Gold der Lichter draußen gleicht der Farbe seiner Haare, und sein attraktives Gesicht strahlt Selbstsicherheit und Zuversicht aus. Und am allermeisten: Vertrautheit. Wenn man immer gewusst hat, wie man jemanden ansehen soll, ist es verwirrend, wenn sich die Perspektive verändert. Xander war immer jemand, den ich nicht haben konnte, und das war ich auch für ihn.
Jetzt ist alles anders.
Mein zehn Jahre alter Bruder Bram erwartet uns auf der Veranda vor dem Haus. Als wir ihm von dem Bankett erzählen, ist er ganz aufgeregt.
»Xander ist dein Partner? Du kennst jetzt schon den Mann, den du mal heiraten wirst? Das ist merkwürdig!«
»Du bist merkwürdig«, necke ich ihn, und er duckt sich weg, als ich so tue, als ob ich ihn packen wollte. »Wer weiß? Vielleicht wohnt deine zukünftige Partnerin ja auch in unserer Straße. Vielleicht ist es …«
Bram hält sich die Ohren zu. »Sag es nicht! Sag es nicht!«
»Serena«, sage ich, und er dreht sich weg und tut so, als würde er mich nicht hören. Serena wohnt nebenan, und sie und Bram ärgern sich ständig gegenseitig.
»Cassia!«, mahnt meine Mutter und blickt sich um, um sicherzugehen, dass niemand mich gehört hat. Wir dürfen anderen Bewohnern unserer Straße und unseres Viertels gegenüber nicht überheblich sein. Wir sollen einander eine Stütze sein. Die Ahorn-Siedlung ist für die guten, engen Beziehungen zwischen den Bewohnern bekannt und gilt als vorbildlich.
Bram haben wir das aber nicht zu verdanken
, denke ich.
»Ich will Bram doch nur ein bisschen ärgern, Mama«, erwidere ich. Ich weiß, dass sie mir nicht lange böse sein kann. Nicht am Abend meines Paarungsbanketts, der sie daran erinnert, wie schnell ich erwachsen geworden bin.
»Kommt rein«, sagt mein Vater. »Es ist schon fast Sperrstunde. Wir können morgen über alles reden.«
»Gab es Kuchen?«, fragt Bram, als mein Vater die Tür öffnet. Ich bleibe draußen stehen. Die anderen drehen sich um und schauen mich abwartend an.
Ich rühre mich nicht. Ich habe noch keine Lust hineinzugehen.
Wenn ich es täte, würde es bedeuten, dass der Abend zu Ende geht, und das will ich nicht. Ich möchte das Kleid nicht ablegen und wieder meine Zivilkleidung anziehen. Sie ist zwar ganz okay, aber nicht so etwas Besonderes wie dieses Kleid. »Ich komme gleich rein«, verspreche ich. »Nur noch ein paar Minuten.«
»Aber nicht mehr lange«, mahnt mein Vater sanft. Er will nicht, dass ich gegen die Sperrstunde verstoße. Die Stadt erlässt die Ausgangszeiten, nicht er, das ist mir schon klar.
»Nein, nicht mehr lange«, beteuere ich.
Ich setze mich auf die Stufen vor unserem Haus, vorsichtig, wegen des geliehenen Kleides, und betrachte den Faltenwurf des wunderbaren Stoffs. Es gehört mir nicht, aber heute Abend ist es meins, in dieser Zeit, die dunkel und hell und voller Überraschungen und Vertrautheit ist. Ich blicke hinaus in die Frühlingsnacht und wende mein Gesicht den Sternen zu.
Lange bleibe ich nicht draußen sitzen, denn morgen ist Samstag, und da gibt es immer viel zu tun. Frühmorgens muss ich mich an meinem Probearbeitsplatz im Datenzentrum melden. Abends habe ich meine Freizeitstunden, eine der wenigen Gelegenheiten, bei denen ich meine Freunde außerhalb der Schule treffen kann.
Und Xander wird da sein.
In meinem Zimmer schüttele ich die Tabletten aus der flachen Vertiefung im unteren Teil der Puderdose. Ich zähle sie – eins, zwei, drei; grün, blau, rot – und fülle sie zurück in das übliche Metallröhrchen.
Ich weiß, was die grünen und die blauen Tabletten bewirken. Aber
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