Die Auswahl. Cassia und Ky
aber bis Sie einundzwanzig sind, werden diese mit fünfundneunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit verflogen sein.«
»Ky und ich sind Freunde. Wanderpartner.«
»Sie glauben wohl, das käme nicht häufig vor?«, fragt die Funktionärin amüsiert. »Fast achtundsiebzig Prozent aller gepaarten Teenager haben irgendeine unbedeutende Liebelei, und zwar meist in dem Jahr nach ihrer Paarung. Das ist nichts Ungewöhnliches.«
Am meisten hasse ich die Funktionäre, wenn sie so tun, als hätten sie das alles schon mal gesehen, als hätten sie
mich
schon mal gesehen. Dabei kennen sie
mich
überhaupt nicht. Nur meine Daten auf irgendeinem Bildschirm.
»Normalerweise gehen wir lächelnd über solche Vorkommnisse hinweg und warten, dass sie sich von selbst erledigen. Aber für Sie ist das Risiko höher, aufgrund von Kys Status als Aberration. Mit einem respektierten Mitglied der Gesellschaft zu flirten ist akzeptabel, aber bei Ihnen beiden ist es etwas ganz anderes. Wenn das so weitergeht, laufen Sie Gefahr, selbst als Aberration klassifiziert zu werden. Und Ky Markham könnte womöglich zurück in die Äußeren Provinzen geschickt werden.« Das Blut gefriert mir in den Adern, aber sie ist noch nicht fertig mit mir. Sie befeuchtet ihre Lippen, die so trocken sind wie der Brunnen hinter ihr. »Haben Sie mich verstanden?«
»Ich kann nicht einfach aufhören, mit ihm zu reden. Er ist mein Wanderpartner. Wir wohnen in derselben Straße …«
Sie unterbricht mich. »Natürlich dürfen Sie mit ihm reden. Sie sollten nur keine Grenzen überschreiten. Ihn küssen, zum Beispiel.« Lächelnd fügt sie hinzu: »Sie möchten doch bestimmt nicht, dass Xander davon erfährt, oder? Sie wollen ihn doch nicht verlieren?«
Ich koche vor Wut, und sie muss es mir ansehen. Aber sie hat recht. Ich will Xander nicht verlieren.
»Cassia. Bedauern Sie Ihre Entscheidung, gepaart zu werden? Wünschen Sie, Sie hätten sich dafür entschieden, Single zu bleiben?«
»Nein, das ist es nicht.«
»Was dann?«
»Ich bin der Meinung, dass es jedem freistehen sollte, sich seinen Partner selbst auszusuchen«, erwidere ich tonlos.
»Aber wo sollte das denn hinführen, Cassia?«, antwortet sie mit geduldiger Stimme. »Und als Nächstes entscheiden dann auch die Paare selbst, wie viele Kinder sie bekommen und wo sie leben möchten? Oder wann sie sterben wollen?«
Ich schweige, aber nicht, weil ich ihr zustimme. Ich denke an Großvater.
Geh nicht gelassen.
»Welchen Verstoß habe ich begangen?«, frage ich.
»Wie bitte?«
»Als ich in der Schule über das Terminal ausgerufen wurde, hieß es in der Nachricht, ich hätte einen Verstoß begangen.«
Die Funktionärin lacht. Ihr Lachen klingt natürlich und freundlich, aber mir läuft ein eiskalter Schauder über den Rücken. »Ach, das war doch nur ein Fehler! Wieder einer, wie es scheint. Sie scheinen die ja regelrecht anzuziehen!« Sie beugt sich etwas näher zu mir. »Sie haben keinen Verstoß begangen, Cassia. Noch nicht.«
Sie steht auf. Ich starre auf den trockenen Brunnen, als könne ich kraft meines Willens das Wasser wieder zum Fließen bringen. »Das ist eine Warnung, Cassia. Verstanden?«
»Ich verstehe«, antworte ich. Das ist nicht mal gelogen. In gewisser Weise verstehe ich sie tatsächlich. Ich weiß, warum sie dafür sorgen muss, dass die Gesellschaft sicher und stabil bleibt, und ein Teil von mir akzeptiert das. Das hasse ich am allermeisten.
Als ich ihr endlich ins Gesicht sehe, wirkt sie zufrieden. Sie weiß, dass sie gewonnen hat. Sie sieht es meinen Augen an, dass ich es nicht riskieren würde, Kys Situation zu verschlimmern.
»Es ist ein Päckchen für dich angekommen«, erzählt mir Bram mit leuchtenden Augen, als ich nach Hause komme. »Es wurde von einem Boten geliefert. Muss etwas Gutes sein. Ich musste die Annahme mit meinem Fingerabdruck bestätigen.«
Er folgt mir in die Küche, wo ein kleines Paket auf dem Tisch liegt. Als ich mir das holzige braune Papier ansehe, mit dem es umwickelt ist, überlege ich, wie viel Ky von seiner Geschichte auf dieses Papier schreiben könnte. Aber er muss damit aufhören. Es ist zu gefährlich.
Dennoch ertappe ich mich dabei, dass ich das Papier vorsichtig auseinanderfalte. Dann streiche ich es in aller Ruhe glatt. Bram wird schier verrückt. »Komm schon! Jetzt beeil dich doch!« Pakete bekommen wir nicht jeden Tag.
Als Bram und ich endlich sehen, was sich in dem Päckchen befindet, seufzen wir beide auf. Er vor Enttäuschung, ich aus
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