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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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Bram. »Ich bin seit Wochen nicht mal mehr zu spät zur Schule gekommen!«
    »Die Warnung gilt nicht dir«, entgegnet meine Mutter, »sondern jemand anderem.«
    Mein Vater legt meiner Mutter die Hände auf die Schultern, und als er sie ansieht, ist es, als würden sie nur noch füreinander existieren. »Molly, ich schwöre es dir. Ich habe nicht …«
    Zur gleichen Zeit öffne ich den Mund, um etwas von dem zu gestehen – was genau, weiß ich noch nicht –, was ich getan habe, und zuzugeben, dass das alles meine Schuld ist. Aber bevor mein Vater ausgeredet hat, unterbricht ihn meine Mutter.
    »Diese Warnung gilt
mir

    Sie dreht sich um, geht ins Haus und wischt sich dabei mit einer Hand über die Augen. Als ich ihr nachblicke, fährt mein Schuldgefühl scharf und schnell durch mich hindurch wie die Säge durch den Baum.
    Ich glaube nicht, dass diese Warnung meiner Mutter gilt.

    Wenn die Funktionäre tatsächlich meine Träume lesen können, sollten sie über meinen Traum von letzter Nacht erfreut sein. Ich habe den letzten Teil von Kys Geschichte verbrannt, aber anschließend unablässig darüber nachgegrübelt, was er mir mit diesem Bild sagen will, was es zu bedeuten hat: Die Sonne stand rot und tief am Himmel, als die Funktionäre kamen, um ihn zu holen.
    In meinem Traum sah ich immer wieder Ky, begleitet von Funktionären in weißen Uniformen, der vor einem roten Himmel wartete, an dem die Sonne schon fast untergegangen war. Ob sie auf- oder unterging konnte ich nicht feststellen, denn im Traum hatte ich keinerlei Zeitgefühl. In keiner Phase des Traums zeigte Ky auch nur die geringste Spur von Angst. Seine Hände zitterten nicht, sein Gesichtsausdruck blieb gelassen. Aber ich wusste, dass er Angst hatte, und als das rote Sonnenlicht auf ihn fiel, sah sein Gesicht blutig aus.
    Ich möchte diese Szene nicht erleben. Aber ich will mehr wissen. Wie ist er damals entkommen? Was ist geschehen?
    Ich bin innerlich zerrissen: Auf der einen Seite möchte ich, dass niemandem etwas passiert, auf der anderen Seite will ich alles erfahren. Ich weiß nicht, welcher Wunsch der stärkere ist.

    Meine Mutter sagt kaum ein Wort, als wir zusammen im Airtrain zum Arboretum fahren. Ab und zu sieht sie mich an und lächelt, aber ich merke, dass sie mit den Gedanken ganz woanders ist. Als ich sie nach ihrer Dienstreise frage, weicht sie mir aus, deshalb lasse ich sie irgendwann in Ruhe.
    Ky fährt im selben Zug wie ich, und gemeinsam gehen wir zum Hügel. Ich versuche, mich freundlich, aber reserviert zu verhalten – so, wie wir früher miteinander umgegangen sind –, obwohl ich mich danach sehne, seine Hand wieder zu berühren, in seine Augen zu schauen und ihn nach seiner Geschichte zu fragen. Danach, was als Nächstes geschehen ist.
    Kaum sind wir im Wald, kann ich mich nicht mehr beherrschen. Ich muss es wissen. Ich lege die Hand auf seinen Arm, während wir unsere Spuren bis zu der Stelle verfolgen, an der wir zuletzt Markierungen angebracht haben. Als ich ihn berühre, lächelt er mich an, so dass mir das Herz übergeht und ich es kaum fertigbringe, meine Hand wieder wegzunehmen, ihn loszulassen. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin, mich von ihm fernzuhalten, obwohl der Wunsch, ihn nicht in Gefahr zu bringen, noch größer ist als mein Wunsch, mit ihm zusammenzusein.
    »Ky«, beginne ich. »Gestern habe ich eine Unterredung mit einer Funktionärin gehabt. Sie weiß von uns. Sie wissen von uns.«
    Ky nickt. »Natürlich wissen sie es.«
    »Haben sie auch mit dir geredet?«
    »Ja.«
    Für jemanden, der sein ganzes Leben damit verbracht hat, den Funktionären um jeden Preis aus dem Weg zu gehen, reagiert er bemerkenswert gefasst. Seine Augen sind so unergründlich wie immer, aber es liegt eine Ruhe in ihnen, die ich noch nie zuvor gesehen habe.
    »Machst du dir keine Sorgen?«
    Ky antwortet nicht. Stattdessen greift er in die Tasche seines Hemdes, zieht ein Stück Papier heraus und gibt es mir. Es unterscheidet sich von dem braunen Papier der Servietten und Verpackungen, das er bisher benutzt hat – es ist weißer und glatter. Die Schrift darauf ist nicht seine eigene. Es ist ein Ausdruck aus irgendeinem Terminal oder Schreibcomputer, aber irgendetwas daran wirkt fremdartig.
    »Was ist das?«, frage ich.
    »Ein Geschenk für dich, nachträglich zum Geburtstag. Ein Gedicht.«
    Erstaunt öffne ich den Mund – ein Gedicht?
Wie?
 –, und schnell beruhigt mich Ky. »Keine Angst. Wir zerstören das Papier bald,

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