Die Auswahl. Cassia und Ky
Bilder, und mir wird klar, dass kein Ort
nur
gut ist, aber auch keiner ausschließlich schlecht. Früher habe ich immer in absoluten Kategorien gedacht: Erst glaubte ich, unsere Gesellschaft sei perfekt. Dann, an dem Abend, an dem man uns die Artefakte nahm, hielt ich sie für durch und durch böse. Inzwischen weiß ich es einfach nicht mehr.
Ky hilft mir, die Zwischentöne wahrzunehmen, aber auch, klarzusehen. Und ich hoffe, dass ich dasselbe für ihn tue.
»Warum verlierst du absichtlich beim Spielen?«, frage ich ihn, als wir auf einer kleinen Lichtung innehalten.
Sein Gesicht verhärtet sich. »Ich muss das tun.«
»Jedes Mal? Denkst du nicht wenigstens einmal daran zu gewinnen?«
»Doch, jedes Mal«, erwidert Ky. Wieder flackert es in seinen Augen, und er bricht einen Zweig von einem Baum ab, um einen Durchgang für uns zu schaffen. Er wirft den Zweig weg und hält den nächsten für mich zur Seite. Er wartet darauf, dass ich vorbeigehe, aber ich bleibe einfach neben ihm stehen. Er blickt auf mich herunter. Die Schatten von Blättern und Sonnenflecken huschen über sein Gesicht. Er sieht meine Lippen an, wodurch mir das Sprechen schwerfällt, obwohl ich genau weiß, was ich sagen will.
»Xander weiß, dass du absichtlich verlierst.«
»Ich weiß, dass er es weiß«, sagt Ky. Ein Lächeln umspielt seine Lippen, genau wie am Samstagabend. »Sonst noch Fragen?«
»Nur noch eine«, sage ich. »Welche Farbe haben deine Augen?« Ich möchte wissen, was er denkt, wie er sich selbst sieht –
den wahren Ky
–, wenn er es wagt, genau hinzusehen.
»Blau«, antwortet er überrascht. »Sie sind schon immer blau gewesen.«
»Nicht für mich.«
»Wie sehen sie denn für dich aus?«, fragt er verblüfft und amüsiert. Jetzt blickt er nicht mehr auf meinen Mund, sondern in meine Augen.
»Sie haben viele Farben«, erkläre ich. »Anfangs glaubte ich, sie wären braun. Einmal dachte ich, sie wären grün, und einmal, sie wären grau. Aber meistens sind sie tatsächlich blau.«
»Und wie sind sie jetzt?«, fragt er. Er weitet seine Augen noch ein bisschen mehr, beugt sich zu mir und lässt mich in seine Augen schauen – so lange und so tief ich möchte.
Und es ist so viel zu sehen in seinen Augen. Sie sind blau und schwarz und auch noch andersfarbig, und ich weiß manches, was sie gesehen haben, und anderes, wovon ich hoffe, dass sie es jetzt sehen. Mich. Cassia. Was ich empfinde, wer ich bin.
»Und?«, fragt Ky.
»Alles«, antworte ich ihm. »Sie sind alles.«
Keiner von uns beiden bewegt sich für einige Augenblicke – stattdessen blicken wir einander an, gefangen in unseren Augen und in den Zweigen dieses Berges, dessen Gipfel wir nie erreichen werden.
Ich bewege mich zuerst. Ich gehe an ihm vorbei, bahne mir den Weg durch weiteres dichtes Gestrüpp und steige über einen kleinen umgestürzten Baum.
Hinter mir höre ich, wie Ky dasselbe tut.
Ich verliebe mich in ihn. Ich
bin
in ihn verliebt. Dabei liebe ich Xander auch. Dessen bin ich mir ganz sicher, genauso sicher wie darüber, dass das, was ich für Ky empfinde, etwas anderes ist.
Wieder binde ich einen roten Streifen um einen Baum und sehne den Fall unserer Gesellschaft und ihrer Systeme herbei, einschließlich des Paarungssystems. Dann könnte ich mit Ky zusammen sein. Aber mir ist klar, dass das ein egoistischer Wunsch ist. Selbst wenn der Fall unserer Gesellschaft für einige ein besseres Leben bedeuten könnte, würde sich doch die Lage für andere verschlimmern.
Wer bin ich, dass ich versuche, alles zu verändern? Warum bin ich so gierig und will mehr? Wenn sich die Gesellschaft verändert und alles anders wird, wer bin ich, dass ich einem Mädchen, das dieses geschützte Leben genossen hat, sage, dass sie nun eine Wahl treffen und sich mit Gefahren auseinandersetzen muss, und zwar nur meinetwegen?
Die Antwort ist: Ich bin ein Niemand. Ich bin nur eine von denen, die zufällig zur Mehrheit gehören. Ein ganzes Leben lang hatte ich das Glück auf meiner Seite.
»Cassia«, sagt Ky. Er bricht wieder einen Ast ab, bückt sich rasch und schreibt etwas in die dicke Erdschicht auf dem Waldboden. Vorher muss er eine Lage Blätter beiseiteschieben, und eine Spinne krabbelt davon. »Schau mal«, sagt er und zeigt mir einen neuen Buchstaben:
K.
Dankbar für die Ablenkung, hocke ich mich neben ihn. Dieser Buchstabe ist schwieriger, und ich brauche mehrere Versuche, bevor ich ihn auch nur annähernd beherrsche. Trotz meiner Übung mit den anderen
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