Die Auswahl. Cassia und Ky
damit wir keinen Ärger bekommen. Wir brauchen nicht lange, um es auswendig zu lernen.« Er strahlt vor Freude, und zum ersten Mal fällt mir auf, dass Ky ein ganz klein wenig Ähnlichkeit mit Xander hat, wenn er so offen lacht. Das erinnert mich an das sich verändernde Gesicht auf dem Terminal an dem Tag nach dem Paarungsbankett, als mir erst Xander, dann Ky erschienen ist. Doch jetzt sehe ich nur Ky. Nur Ky, niemand anderen.
Ein Gedicht.
»Hast du es geschrieben?«
»Nein«, antwortet er, »aber es stammt von demselben Mann, der das andere Gedicht geschrieben hat.
Geh nicht gelassen.
«
»Wie ist das möglich?«, frage ich ihn. Denn ich habe im Schulterminal keine anderen Gedichte von Dylan Thomas gefunden.
Ky schüttelt den Kopf und ignoriert meine Frage. »Es ist auch nicht das ganze. Ich konnte mir nur eine Strophe leisten.« Ehe ich fragen kann, was er im Austausch gegen dieses Gedicht hergegeben hat, räuspert er sich ein wenig nervös und blickt auf seine Hände. »Mir hat es gefallen, weil von einem Geburtstag die Rede ist, und weil es mich an dich erinnert. Und wie ich mich gefühlt habe, als ich dich zum ersten Mal gesehen habe, damals im Schwimmbad.« Er scheint nicht recht weiterzuwissen, und ich sehe einen Schatten der Traurigkeit über sein Gesicht huschen. »Gefällt es dir nicht?«
Ich halte das weiße Papier in der Hand, aber meine Augen schwimmen in Tränen, so dass ich die Schrift nicht entziffern kann. »Hier«, sage ich und gebe ihm das Gedicht zurück. »Kannst du es mir bitte vorlesen?« Ich wende mich ab und mache mich auf den Weg durch die Bäume. Fast stolpere ich, so geblendet bin ich von seiner wunderbaren Überraschung und so überwältigt von alldem, was möglich wäre, aber nicht möglich ist.
Hinter mir höre ich Kys Stimme. Ich bleibe stehen und höre ihm zu.
Gedicht im Oktober
Mein Geburtstag fing an mit den Wasser-
Vögeln und Vögeln geflügelter Bäume
die flogen meinen Namen
Über den Bauernhöfen und über den weißen Rossen
Und ich stand auf
Im Regenherbst
Und ging hinaus in einen Schauer all meiner Tage.
Ich gehe weiter und kümmere mich nicht um Steinhaufen oder Bänder oder irgendetwas sonst, was mich aufhalten könnte. Ich bin unvorsichtig und schrecke einen Schwarm Vögel auf, der hochflattert und sich unmittelbar vor uns in den Himmel schwingt. Weiß auf Blau, wie die Farben der Stadthalle. Wie die Farben der Engel.
»Sie
fliegen deinen Namen
«, sagt Ky hinter mir.
Ich drehe mich um und sehe ihn zwischen den Bäumen stehen, das Gedicht in der Hand.
Die Rufe der Vögel verhallen, je weiter sie fliegen. In der Stille, die darauf folgt, gehen wir langsam aufeinander zu, Ky und ich, und schon bald stehen wir uns dicht gegenüber. Wir berühren uns nicht, atmen ein und aus, küssen uns aber nicht.
Ky beugt sich zu mir, blickt mir tief in die Augen und kommt so nah, dass ich das Gedicht bei seiner Bewegung knistern höre.
Ich schließe die Augen, als seine warmen Lippen meine Wange berühren. Ich denke an die Pappelsamen, die mich damals gestreift haben. Weich, hell, verheißungsvoll.
KAPITEL 24
K y macht mir drei Geburtstagsgeschenke. Ein Gedicht, einen Kuss und die von vornherein vergebliche, wunderbare Hoffnung, dass trotz allem eine Zukunft auf uns wartet. Als ich meine Augen öffne und meine Hand auf die Stelle lege, die er geküsst hat, sage ich: »Ich habe dir gar nichts geschenkt, ich weiß nicht einmal, wann du Geburtstag hast.« Er antwortet: »Das macht doch nichts«, und ich erwidere: »Was kann ich tun?«, und er sagt: »Lass mich an das hier glauben, an all das, und glaube du auch daran.«
Und das tue ich.
Den ganzen Tag konzentriere ich mich auf seinen heißen Kuss auf meiner Wange, lasse ihn bis ins Blut dringen und verscheuche die Erinnerung nicht. Ich habe schon andere Jungen geküsst. Aber diesmal ist es anders. Das hier fühlt sich – mehr noch als mein Geburtstag am Tag des Paarungsbanketts – wie ein denkwürdiges Ereignis an. Dieser Kuss, diese Worte: Sie scheinen mir ein Anfang zu sein.
Ich erlaube mir, mir eine unmögliche Zukunft auszumalen, in der wir zusammen sind. Sogar beim Sortieren später an diesem Tag kann ich mich nur konzentrieren, indem ich mir einbilde, jede sortierte Zahl sei ein Code, eine verschlüsselte Nachricht an Ky, dass ich unser Geheimnis bewahren werde. Ich werde dafür sorgen, dass uns nichts geschieht, ich werde nichts verraten. Jeder Sortiervorgang, den ich korrekt ausführe, hält die
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