Die Auswahl. Cassia und Ky
Aufmerksamkeit der Funktionäre von uns fern.
Da ich heute Nacht nicht mit den Schlafelektroden an der Reihe bin, lasse ich meinen Träumen freien Lauf. Doch zu meiner Überraschung träume ich nicht von Ky auf dem Hügel. Ich träume davon, dass er auf der Treppe vor unserem Haus sitzt und zusieht, wie der Wind in den Ahornblättern spielt. Ich träume davon, dass mich Ky in den privaten Speisesaal ausführt, mir den Stuhl zurechtrückt und sich so dicht zu mir beugt, dass sogar die künstlichen Kerzen in seiner Gegenwart flackern. Ich träume davon, wie wir beide zwischen den Neorosen in seinem Garten graben und er mir zeigt, wie man sein Artefakt benutzt. Alles, wovon ich träume, ist einfach, schlicht und alltäglich.
Daher weiß ich, dass es nur Träume waren. Denn genau diese einfachen, schlichten und alltäglichen Erlebnisse sind die, die wir niemals zusammen erleben können.
»Ky?«, frage ich ihn am nächsten Tag auf dem Hügel, als wir tief genug in den Wald vorgedrungen sind und uns niemand belauschen kann. »Wie können wir glauben, dass es jemals funktionieren kann? Die Funktionärin hat damit gedroht, dich in die Äußeren Provinzen zurückzuschicken!«
Ky zögert mit seiner Antwort, und ich habe das Gefühl, geschrien zu haben, während ich in Wirklichkeit so leise wie möglich gesprochen habe. Als wir den Steinhaufen von unserer letzten Wanderung passieren, blickt er mir in die Augen, und ich schwöre, dass ich seinen Kuss wieder spüre. Diesmal aber auf meinen Lippen.
»Hast du schon einmal vom Gefangenen-Dilemma gehört?«, fragt mich Ky.
»Natürlich.« Will er mich ärgern? »Du hast das Spiel gegen Xander gespielt. Wir alle haben es schon einmal gespielt.«
»Nein, ich meine nicht das Spiel. Die Gesellschaft hat das Spiel angepasst. Ich meine die Theorie, die dem Spiel zugrunde liegt.«
Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. »Nein, ich glaube nicht.«
»Wenn zwei Leute gemeinsam ein Verbrechen verüben, erwischt und dann getrennt verhört werden, was passiert?«
Ich weiß noch immer nicht, worauf er hinauswill. »Ich weiß es nicht. Was denn?«
»Sie stecken in einem Dilemma. Sollen sie den anderen verraten, in der Hoffnung, dass die Funktionäre gnädig mit ihnen verfahren – sollen sie einen Handel mit ihnen eingehen? Oder weigern sie sich, irgendetwas zu sagen, was ihren Partner verraten könnte? Das Beste wäre es, wenn beide schweigen würden. Dann kann man keinem etwas anhaben.«
Wir haben bei einer Gruppe von umgestürzten Bäumen angehalten. »Sie schützen ich gegenseitig«, rate ich.
Ky nickt. »Aber das passiert so gut wie nie.«
»Warum nicht?«
»Weil die Gefangenen sich fast immer gegenseitig verraten. Irgendwann sagen sie alles, was sie wissen, nur damit man sie endlich in Ruhe lässt.«
Ich glaube, ich weiß, worum er mich bittet. Ich werde allmählich besser darin, in seinen Augen zu lesen und seine Gedanken zu erkennen. Vielleicht, weil ich inzwischen mehr über seinen Hintergrund weiß, darüber, wer er wirklich ist. Ich reiche ihm einen roten Streifen. Mittlerweile versuchen wir beide nicht mehr, uns nicht zu berühren. Unsere Hände treffen sich und halten sich aneinander fest, bevor sie wieder loslassen.
Ky fährt fort. »Aber idealerweise würden beide nichts sagen.«
»Meinst du, wir schaffen das?«
»Wir werden niemals sicher sein«, erwidert Ky und streichelt mir mein Gesicht. »Das habe ich inzwischen verstanden. Aber ich vertraue dir. Wir werden einander schützen, so gut wir können, solange wir können.«
Was bedeutet, dass unsere Küsse Versprechungen bleiben müssen, Verheißungen, wie sein erster sanfter Kuss auf meine Wange. Unsere Lippen berühren sich nicht. Noch nicht. Denn damit würden wir tatsächlich einen Verstoß begehen. Die Gesellschaft verraten. Xander verraten. Das wissen wir beide. Wie viel Zeit werden wir ihnen noch stehlen können? Uns selbst stehlen können? Denn ich sehe es in seinen Augen, dass er sich genauso nach diesem Kuss sehnt wie ich.
Doch unser Leben geht weiter: lange Arbeitszeiten für Ky, Sortieren und Schule für mich. Aber ich weiß, dass mir all das nicht annähernd so lebendig im Gedächtnis bleiben wird wie jede Einzelheit dieser Tage mit Ky beim Wandern auf dem Hügel.
Außer jenes Ereignis an einem angespannten Samstagabend im Kino, als Xander meine Hand hält und Ky so tut, als interessiere es ihn nicht. Am Ende wartet ein schrecklicher Moment, in dem die Lichter angehen und ich die Funktionärin
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