Die Auswahl. Cassia und Ky
aus dem Park entdecke, die sich suchend umblickt. Als sie mich bemerkt und sieht, dass Xander meine Hand hält, lächelt sie mir andeutungsweise zu und verschwindet. Ich sehe Xander von der Seite an, nachdem sie weg ist, und bin von einer tiefen Sehnsucht erfüllt, einem so tiefen und echten Schmerz, dass ich ihn jedes Mal spüre, wenn ich an jenen Abend zurückdenke. Aber meine Sehnsucht gilt nicht Xander, sondern der Beziehung, die wir früher zueinander hatten. Ohne Geheimnisse, ohne Komplikationen.
Trotzdem. Obwohl ich Xander gegenüber Gewissensbisse habe, obwohl ich mich um ihn sorge: Diese Tage gehören Ky und mir. Der Entdeckung seiner Vergangenheit und dem Lernen neuer Buchstaben.
Manchmal möchte Ky wissen, ob ich mich an bestimmte Ereignisse von früher erinnere. »Kannst du dich noch an Brams ersten Schultag erinnern?«, fragt er mich eines Tages, als wir durch den Wald hasten, um die Zeit wieder wettzumachen, die wir mit Schreiben vertrödelt haben.
»Natürlich«, antworte ich, atemlos vom Rennen und von der Erinnerung an seine Hände auf den meinen. »Bram wollte zu Hause bleiben. Er hat an der Airtrain-Haltestelle eine Szene gemacht. Das hat keiner vergessen.« In dem Herbst des Jahres nach ihrem sechsten Geburtstag kommen die Kinder in die Grundschule. Der Schulbeginn wird als wichtiger Übergangsritus zelebriert, eine Vorstufe der späteren Bankette. Am Ende des ersten erfolgreichen Schultages bringen die Kinder einen kleinen Kuchen mit nach Hause, der als Nachtisch beim Abendessen verzehrt wird, und dazu einen Strauß knallbunter Luftballons. Ich weiß nicht, worauf Bram sich mehr freute – auf den Kuchen, den wir so selten bekommen, oder die Luftballons, die es nur am ersten Schultag gibt. Am gleichen Tag erhielt er auch sein Lesegerät und seinen Schreibcomputer, aber das war meinem Bruder vollkommen egal.
Als der Moment kam, an dem er in den Zug zur Grundschule steigen sollte, sträubte sich Bram auf einmal. »Ich will nicht«, erklärte er. »Ich bleibe lieber hier.«
Es war morgens früh, und am Bahnhof wimmelte es von Leuten, die zur Arbeit fuhren, und Kindern auf dem Weg zur Schule. Köpfe drehten sich in unsere Richtung, als Bram sich weigerte, mit meinen Eltern zusammen in den Airtrain zu steigen. Mein Vater sah besorgt aus, aber meine Mutter nahm es gelassen. »Keine Angst«, flüsterte sie mir zu. »Die Funktionäre, die für seine Vorschule zuständig waren, haben mich schon vorgewarnt. Sie haben vorausgesagt, dass er mit diesem Meilenstein so seine Probleme haben würde.« Dann kniete sie sich neben ihn und sagte: »Komm, lass uns einsteigen, Bram. Denk an die Luftballons. Denk an den Kuchen.«
»Die können mir gestohlen bleiben!« Und dann fing er zur allgemeinen Überraschung an zu weinen. Bram hat nie geweint, nicht einmal, als er noch ganz klein war. Jetzt war auch meine Mutter fassungslos. Sie nahm ihn in die Arme und drückte ihn. Bram ist ein Nachzügler, das Kind, auf das sie schon nicht mehr gehofft hatten. Nachdem sie mich schnell und problemlos bekommen hatte, dauerte es Jahre, bis meine Mutter noch einmal schwanger wurde. Mein Bruder wurde nur wenige Wochen vor ihrem einunddreißigsten Geburtstag geboren, dem Alter, bis zu dem man Kinder bekommen darf. Wir sind alle glücklich, Bram zu haben, aber meine Mutter ganz besonders.
Ich wusste, dass wir in Schwierigkeiten geraten würden, wenn Bram weiter so weinte. Damals wohnte in jeder Straße ein Funktionär, der speziell für solche Probleme zuständig war.
Also sagte ich laut zu Bram: »Pech für dich. Kein Lesegerät, kein Schreibcomputer. Du wirst niemals schreiben lernen. Du wirst niemals lesen lernen.«
»Stimmt gar nicht!«, schrie Bram. »Ich kann es trotzdem lernen!«
»Wie denn?«, fragte ich ihn.
Er kniff die Augen zusammen, hörte aber schließlich auf zu heulen. »Ist mir doch egal, ob ich lesen oder schreiben kann.«
»Na schön«, sagte ich, und aus dem Augenwinkel heraus sah ich, wie jemand am Haus des Funktionärs anklopfte, das genau neben der Airtrain-Haltestelle lag.
Nein. Bram hat schon zu viele Tadel im Kindergarten einkassiert.
Zischend hielt der Zug an, und im gleichen Moment wusste ich, was zu tun war. Ich nahm Brams Schultasche und hielt sie ihm hin. »Es ist deine Entscheidung«, sagte ich, sah ihm in die Augen und fixierte ihn. »Du kannst groß werden oder ein Baby bleiben.«
Bram sah verletzt aus. Ich drückte ihm die Tasche in die Hand und flüsterte ihm ins Ohr: »Ich weiß, wie
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