Die Auswahl. Cassia und Ky
man auf dem Schreibcomputer Spiele spielen kann.«
»Echt?«
Ich nickte.
Brams Gesicht hellte sich auf. Er nahm die Tasche und ging, ohne sich noch einmal umzublicken, durch die Schiebetüren in den Zug. Meine Eltern und ich stiegen nach ihm ein, und als wir drinnen waren, umarmte mich meine Mutter fest. »Danke«, sagte sie.
Natürlich waren auf dem Schreibcomputer keine Spiele installiert. Ich musste mir welche ausdenken, aber ich bin schließlich nicht umsonst eine geborene Sortiererin. Es dauerte Monate, bis Bram herausfand, dass keines der anderen Kinder ältere Geschwister hatte, die Muster und Bilder in Bildschirmen voller Buchstaben versteckten, die sie in einer ganz bestimmten Zeit finden mussten.
Dadurch wusste ich allerdings schon vor allen anderen, dass Bram niemals ein guter Sortierer werden würde. Trotzdem erfand ich Levels und Punktestände und brachte fast meine ganze Freizeit in den kommenden Monaten damit zu, Spiele zu erfinden, von denen ich wusste, dass sie ihm gefallen würden. Als er schließlich herausfand, dass ich sie konstruiert hatte, war er mir nicht böse. Wir hatten zu viel Spaß, und schließlich hatte ich nicht gelogen. Ich wusste ja wirklich, wie man auf dem Schreibcomputer Spiele spielen kann.
»An dem Tag war es«, sagt Ky jetzt und bleibt stehen.
»Was denn?«
»Dass ich dich durchschaut habe.«
»Inwiefern?«, frage ich verletzt. »Weil du erkannt hast, dass ich die Vorschriften befolge? Und dass ich auch meinen Bruder dazu gebracht habe, zu gehorchen?«
»Nein«, erwidert er, als sei das zu offensichtlich. »Weil ich gesehen habe, wie sehr du deinen Bruder liebst und dass du klug genug warst, ihm zu helfen.« Dann lächelt er mich an. »Wie du aussiehst, wusste ich schon, aber an diesem Tag konnte ich zum ersten Mal hinter deine Fassade blicken.«
»Aha«, sage ich.
»Und was ist mit mir?«, fragt er.
»Wie meinst du das?«
»Wann hast du mich zum ersten Mal richtig wahrgenommen?«
Aus irgendeinem Grund kann ich es ihm nicht verraten. Ich kann ihm nicht erzählen, dass ich am Morgen nach dem Paarungsbankett sein Gesicht auf dem Bildschirm gesehen habe. Jener Fehler, durch den ich eigentlich erst auf ihn aufmerksam wurde. Ich kann ihm nicht sagen, dass ich ihn erst richtig wahrgenommen habe, nachdem mich die Funktionäre mit der Nase auf ihn gestoßen hatten.
»Auf der Kuppe des ersten Hügels«, behaupte ich stattdessen. Und ich wünschte, ich müsste ihm nicht diese Lüge auftischen, ihm, der mehr über mich weiß als irgendjemand sonst auf der Welt.
Später am Abend fällt mir auf, dass Ky mir keinen weiteren Teil seiner Geschichte gegeben hat. Und ich habe ihn nicht danach gefragt. Vielleicht liegt es daran, dass ich jetzt Teil seiner Geschichte bin. Ich bin ein Teil von seiner, und er ist ein Teil von meiner Geschichte. Und der Teil, den wir zusammen schreiben, fühlt sich so an, als wäre er der einzige, der wirklich zählt.
Dennoch quält mich die Frage:
Was geschah, als die Funktionäre ihn abgeholt haben, während die Sonne rot und tief am Himmel stand?
KAPITEL 25
U nsere gemeinsame Zeit fühlt sich an wie ein Sturm, wie heftiger Wind und Regen, etwas, das zu groß ist, um damit umzugehen, und zu stark, um ihm zu entkommen. Er umweht mich und verwirrt meine Haare, benetzt mein Gesicht und lässt mich spüren, dass ich lebe, lebe, lebe. Es gibt Momente der Ruhe und des Innehaltens, wie in jedem Sturm, und Momente, in denen
unsere Worte Funken erbringen
, jedenfalls füreinander.
Wir eilen den Hügel hinauf, berühren uns an den Händen, berühren die Bäume. Reden. Ky hat mir etwas zu erzählen, und ich habe ihm etwas zu erzählen, und wir haben nicht genug Zeit, keine Zeit, nie genug Zeit.
»Es gibt eine Gruppe von Leuten, die sich ›Archivisten‹ nennen«, erzählt Ky. »Damals, als das Komitee der Hundert seine Auswahl traf, wussten die Archivisten, dass die aussortierten Werke später wertvoll sein würden. Deswegen retteten sie einige von ihnen. Die Archivisten haben illegale Terminals, die sie selbst gebaut haben, um Daten zu speichern. Sie haben zum Beispiel das Gedicht von Dylan Thomas gerettet, das ich dir geschenkt habe.«
»Das habe ich ja gar nicht gewusst!«, sage ich bewegt. Ich hatte nie darüber nachgedacht, dass jemand weit genug vorausdenken würde, um einige der Gedichte zu retten. Wusste Großvater davon? Ich glaube nicht. Jedenfalls hat er seine Gedichte nie jemandem zur Aufbewahrung gegeben.
Ky legt mir die Hand auf den
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