Die Auswahl. Cassia und Ky
Arm. »Cassia. Die Archivisten sind nicht selbstlos. Sie sahen ihren Vorteil und taten alles, was sie konnten, um Dinge aus der Vergangenheit zu bewahren. Jeder, der bereit ist, dafür zu zahlen, kann sie haben, aber die Preise sind hoch.« Er schweigt, als habe er schon zu viel verraten – dass das Gedicht ihn etwas gekostet hat.
»Was hast du ihnen gegeben?«, frage ich, plötzlich ängstlich. Soweit ich weiß, besitzt Ky nur zwei wertvolle Dinge: sein Artefakt und den Wortlaut des
Geh nicht gelassen
-Gedichts. Ich würde nicht wollen, dass er sein Artefakt hergibt, das letzte Bindeglied zu seiner Familie. Aber mir widerstrebt auch die Vorstellung, dass er unser Gedicht eingetauscht hat. Egoistischerweise will ich nicht, dass es ein anderer besitzt. Ich sehe ein, dass ich in dieser Hinsicht nicht viel besser bin als die Funktionäre.
»Irgendetwas«, antwortet er, und seine Augen funkeln amüsiert. »Über den Preis mach dir mal keine Sorgen.«
»Dein Artefakt …«
»Keine Sorge. Das habe ich nicht eingetauscht, und auch nicht unser Gedicht. Aber Cassia, solltest du jemals in die Lage geraten, sie wissen nichts von deinem Gedicht! Ich habe sie gefragt, wie viele Texte sie von Dylan Thomas besitzen, und es waren nicht viele. Sie hatten nichts außer dem Geburtstagsgedicht und einer Geschichte. Das war alles.«
»Sollte ich jemals in was für eine Lage geraten?«
»Dass du handeln musst«, antwortet er ausweichend. »Dass du irgendetwas gegen etwas anderes eintauschen musst. Die Archivisten verfügen über Informationen und Verbindungen. Wenn du etwas von ihnen brauchen solltest, könntest du ihnen im Gegenzug eines der Gedichte deines Großvaters anbieten.« Er runzelt die Stirn. »Die Echtheit zu beweisen, könnte ein Problem sein, da du das Originalpapier nicht mehr besitzt … trotzdem bin ich mir sicher, dass sie einiges wert wären.«
»Ich hätte zu große Bedenken, mit solchen Leuten zu handeln«, antworte ich und würde meine Worte am liebsten gleich wieder zurücknehmen. Ich möchte nicht, dass Ky mich für ängstlich hält.
»Aber sie sind nicht grundsätzlich schlecht«, erwidert er. »Ich will dir damit sagen, dass sie weder besser noch schlechter sind als die meisten anderen Menschen. Nicht besser oder schlechter als die Funktionäre zum Beispiel. Du musst mit den Archivisten genau so vorsichtig umgehen wie mit jedem anderen auch.«
»Wo würde ich sie finden?«, frage ich, besorgt über seinen Drang, mir dieses Wissen einzuschärfen. Wovor hat er Angst? Warum meint er, ich sei vielleicht irgendwann gezwungen, unser Gedicht zu verkaufen?
»Im Museum«, erklärt er. »Geh ins Untergeschoss und stell dich vor die Ausstellung zur ›Glorreichen Geschichte‹ der Provinz Oria. Niemand geht je dorthin. Wenn du lange genug stehen bleibst, wird irgendwann jemand kommen und dich fragen, ob du mehr über die Geschichte wissen möchtest. Wenn du das bejahst, gibst du damit zu verstehen, dass du Kontakt zu den Archivisten aufnehmen willst.«
»Woher weißt du das?«, frage ich, wieder einmal überrascht über all die Mittel und Wege, die er kennt, um zu überleben.
Er schüttelt den Kopf. »Es ist besser, wenn du das nicht erfährst.«
»Aber angenommen, jemand stellt sich dorthin und will wirklich mehr über die Geschichte Orias wissen?«
Ky lacht. »Das passiert nicht, Cassia. Niemand hier will irgendetwas über die Vergangenheit erfahren.«
Wir eilen weiter, und immer wieder berühren sich unsere Hände durch die Zweige hindurch. Ky summt eines der Hundert Lieder, das eine, das wir in der Musikhalle zusammen gehört haben.
»Das Lied gefällt mir«, sage ich, und er nickt. »Die Frau, die es singt, hat eine so wunderschöne Stimme.«
»Wenn sie nur echt wäre«, erwidert Ky.
»Wie meinst du das?«, frage ich.
Überrascht sieht er mich an. »Ihre Stimme. Sie ist nicht echt, sondern künstlich generiert. Alle Stimmen in allen Liedern sind künstlich. Wusstest du das nicht?«
Ich schüttele ungläubig den Kopf. »Das kann nicht sein! Ich höre sie doch atmen, während sie singt.«
»Das gehört dazu«, sagt Ky. Er wirkt geistesabwesend, als erinnere er sich an etwas. »Die Gesellschaft weiß, dass wir gerne das Gefühl haben, alles sei authentisch. Wir möchten die Sänger atmen hören.«
»Woher weißt du das?«
»Ich habe echte Menschen singen gehört«, antwortet er.
»Ja, ich auch, in der Schule. Und mein Vater hat mir früher vorgesungen.«
»Das meine ich nicht«, antwortet er.
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