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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Sterbezimmer entwickelt. Ich durfte mich von den Objekten meiner Betrachtungen und Beobachtungen nicht mehr verletzen lassen. Ich mußte in meinen Betrachtungen und Beobachtungen davon ausgehen, daß auch das Fürchterlichste und das Entsetzlichste und das Abstoßendste und das Häßlichste das Selbstverständliche ist, wodurch ich überhaupt diesen Zustand hatte ertragen können. Daß, was ich hier zu sehen bekommen hatte, nichts anderes als ein vollkommen natürlicher Ablauf als Zustand war. Diese Ereignisse und Geschehnisse, rücksichtslos und erbarmungslos wie keine andern in meinem bisherigen Leben, waren auch, wie alles andere, die logische Konsequenz der von dem menschlichen Geist allerdings immer fahrlässig und gemein und heuchlerisch abgedrängten und schließlich vollkommen
ver
drängten Natur gewesen. Ich durfte hier, in diesem Sterbezimmer, nicht verzweifeln, ich mußte ganz einfach die hier wie möglicherweise an keinem anderen Ort ganz brutal offengelegte Natur auf mich wirken lassen. Unter Einsetzung des Verstandes, zu welchem ich plötzlich, nach ein paar Tagen, wieder befähigt gewesen war, hatte ich die Selbstverletzung durch Beobachtung auf ein Minimum einschränken können. Ich war an das Zusammenleben mit Menschen bei Tag und Nacht gewöhnt gewesen, denn ich war in die Schule des Internats in der Schrannengasse gegangen, in eine der, wie ich glaube, härtesten Menschenschulen, aber was ich hier in dem Sterbezimmer zu sehen bekam, mußte alles in dieser Beziehung Vorausgegangene aufheben. Der Achtzehnjährige, der ich damals war, war von den Ursachen seiner Krankheit und dann von dieser Krankheit selbst direkt in den Schauplatz des Schreckens gestoßen worden. Sein Abenteuer war mißglückt, ich war zu Boden geworfen, in das Eckbett im Sterbezimmer des Landeskrankenhauses, in dem Bewußtsein, in die tiefste Tiefe der menschlichen Existenz gestürzt zu sein als Folge meiner Selbstüberschätzung. Ich hatte geglaubt, eine mich befriedigende und dann gar mich glücklich machende Existenz erzwingen zu können. Jetzt hatte ich wieder alles verloren. Aber ich hatte den Tiefstpunkt schon überwunden, ich war schon wieder aus dem Badezimmer heraußen, ich hatte die Letzte Ölung hinter mir, es war schon wieder alles auf der Seite des Optimismus. Ich war schon wieder auf dem Beobachterposten. Ich hatte schon wieder meine Pläne im Kopf. Ich dachte schon wieder an die Musik. Ich hörte schon wieder Musik in meinem Eckbett, Mozart, Schubert, ich hatte schon wieder die Fähigkeit, aus mir heraus die Musik zu hören, ganze Sätze. Ich konnte die in meinem Eckbett aus mir heraus gehörte Musik zu einem, wenn nicht zu
dem
wichtigsten Mittel meines Heilungsprozesses machen. Beinahe war schon alles in mir abgestorben gewesen, jetzt hatte ich das Glück zu beobachten, daß es nicht tot, sondern wieder entwicklungsfähig war. Ich hatte mich nur darauf besinnen müssen, alles schon beinahe Abgestorbene wieder in Gang zu setzen. So, auf der Tatsache, daß ich aus mir heraus wieder meine Lebensmöglichkeiten hatte entwickeln können, Musik hören, Gedichte rekapitulieren, Großvatersätze interpretieren konnte, war es mir möglich gewesen, das Sterbezimmer selbst und die Vorgänge im Sterbezimmer unverletzt zu betrachten und zu beobachten. Auch hatte in mir schon wieder
der kritische Verstand
zu arbeiten angefangen, das Gleichgewicht der Zusammenhänge, die mir verlorengegangen waren, wieder herzustellen. So konnte ich den Tagesablauf im Sterbezimmer aufeinmal schon wieder mit der dazu notwendigen Ruhe beobachten und mir die daraus resultierenden Gedanken machen. Mein Körper war von meiner Krankheit noch niedergedrückt, mein körperlicher Schwächezustand noch immer unverändert, mein Körper zu keiner Bewegung imstande, wenn ich davon absehe, daß ich meinen Kopf tatsächlich schon ein wenig hatte heben und drehen können, was mir doch immerhin schon ermöglichte, die Größe des Sterbezimmers wenigstens annähernd zu erfassen, was mir, wenn ich zu den Punktionen abgeholt wurde, niemals gelungen war, denn in der Anstrengung und in dem fast totalen Erschöpfungszustand, in welchem ich mich jedesmal während des Transports vom Sterbezimmer in die Ambulanz befunden hatte, war es mir unmöglich gewesen, überhaupt etwas zu sehen, bei dieser Gelegenheit hatte ich auch immer, um nichts sehen zu müssen, fest die Augen zugemacht. Mein Körper also war von meiner Krankheit noch niedergedrückt gewesen, aber mein Geist und,

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