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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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entbehrte nicht das Wichtigste, nämlich, daß mein Großvater, wie versprochen, jeden Nachmittag zu mir an mein Bett kam. Er war es, der mich als erster auf die Gefährlichkeit meiner Krankheit aufmerksam gemacht und mir von der Zeit meiner Bewußtlosigkeit einen Bericht gegeben hat. Er verhinderte aber, daß wir uns beide schwächten, indem wir nicht zuviel von Krankheit und Unglück redeten. Es war mir während seiner Besuche an meinem Bett nichts als nur höchstes Glück gewesen, wenn ich meine Hand in der seinigen fühlte. Der Jüngling, der beinahe schon achtzehnjährige Enkel, hatte jetzt eine viel intensivere, weil vor allem geistige Beziehung zu seinem Großvater als der Knabe, der ihm nur in Gefühlen verbunden gewesen war. Wir mußten nicht viele Worte wechseln, um uns und das Übrige zu verstehen. Wir hatten beschlossen, alles zu tun, um aus dem Krankenhaus wieder hinauszukommen. Auf einen neuen Anfang, auf einen neuen Lebensanfang sollten wir uns gefaßt machen. Mein Großvater hatte von einer Zukunft gesprochen (für uns beide), wichtiger und schöner als die Vergangenheit. Es komme nur auf den Willen an, beide hätten wir den Willen, diese Zukunft
zu besitzen
, in höchstem Maße. Der Körper gehorche dem Geist und nicht umgekehrt. Der Tagesablauf im Sterbezimmer war ein schon seit Jahrzehnten bis in die kleinsten Einzelheiten hinein vollkommen eingespielter, und selbst die erschreckendsten Ereignisse und Geschehnisse waren für die in diesem Tagesablauf Beschäftigten nur noch unauffällige und alltägliche. Den zum erstenmal in dieses Krankheits- und Todesgetriebe hereingekommenen, noch dazu jungen Menschen aber mußte die plötzliche und erste Konfrontation mit dem Lebensende zutiefst erschrecken. Er hatte von der Fürchterlichkeit des Lebensendes bis jetzt nur gehört gehabt, niemals ein solches Lebensende gesehen, geschweige denn so viele an ihrem tatsächlichen Lebensende angekommene Menschen auf einmal in und auf einem solchen Schmerzens- und Leidenshöhepunkte gesehen. Was sich hier zeigte, war nichts anderes als eine pausenlos und intensiv und rücksichtslos arbeitende Todesproduktionsstätte, die ununterbrochen neuen Rohstoff zugewiesen bekommen und verarbeitet hat. Nach und nach hatte ich die Vorgänge in dem sich mir mehr und mehr aufklärenden Sterbezimmer nicht nur mit der Gleichgültigkeit des ganz von seinem Leiden in Anspruch genommenen Kranken anschauen, sondern mit dem wiedererwachten Verstand registrieren und prüfen können. Nach und nach mir, von dem ersten gelungenen Kopfheben an, ein Bild gemacht von den Menschen, mit welchen ich schon seit Tagen diesen von mir, wie ich sehr bald eingesehen habe, zu Recht als
Sterbezimmer
bezeichneten Krankensaal teilte. Tatsächlich waren im Sterbezimmer genauso viele Patienten wie Betten. Kein Bett ist länger als nur wenige Stunden ohne einen Patienten gewesen. Die Patienten wurden, wie ich schon sehr bald hatte feststellen können, nicht nur täglich, sondern stündlich und ohne daß diese Prozedur für das Personal erschreckend gewesen wäre, ausgewechselt, weil sie in dieser Jahreszeit in kurzen und in immer kürzeren Abständen starben und nicht schnell genug starben, wie ich dachte, um ihre Betten für ihre Nachfolger freizumachen. Schon drei, vier Stunden, nachdem einer gestorben und aus seinem Bett entfernt und in die Prosektur gebracht worden war, hatte sein Nachfolger in diesem Bett seinen letzten Todeskampf aufgenommen. Daß Sterben letzten Endes etwas so Alltägliches ist, hatte ich vorher nicht wissen können. Eines hatten alle in dieses Sterbezimmer Hereingekommenen ganz sicher gemeinsam: sie wußten, daß sie aus diesem Sterbezimmer
nicht mehr lebend
hinauskommen würden. Solange ich in diesem Sterbezimmer gewesen war, hatte es keiner lebend verlassen. Ich war die Ausnahme. Und ich hatte, wie ich glaubte, ein Recht dazu, weil ich erst achtzehn Jahre alt war und also noch jung und nicht alt. Nach und nach war mir gelungen, was ich schon vom ersten Augenblick meines Aufwachens in dem Sterbezimmer an vorgehabt hatte, mir die einzelnen Gesichter meiner Leidensgefährten anzuschauen, meinen Kopf hatte ich schon ein wenig heben und also meine Augen auf mein Gegenüber richten können. Hatte ich bis jetzt immer nur die über den Kopfenden der Betten angeschraubten schwarzen Tafeln mit den Namen und mit dem Alter der Patienten in Augenschein nehmen können, so war mir aufeinmal ein kurzer Blick auf das Gesicht in dem Gitterbett vor mir

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