Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
was vielleicht noch wichtiger gewesen war, meine Seele nicht. Nach dem Waschen der Patienten, das über zwei Stunden in Anspruch nahm, erschien irgendwann, zwischen fünf und sechs, der Geistliche mit seinem Sakramentenkoffer, um die Letzte Ölung zu geben. Er kam jeden Tag in das Sterbezimmer, und ich kann mich nicht erinnern, daß er einmal keine Letzte Ölung gegeben hätte. Es waren noch nicht einmal alle Patienten gewaschen, und schon hatte sich der Geistliche an einem Bett festgebetet und bekreuzigt und den in dem Bett Liegenden gesalbt. Eine der Schwestern assistierte ihm. Nach dem Waschen war immer eine gewisse Beruhigung festzustellen. Die Waschprozedur hatte alle ziemlich erschöpft, und da lagen sie jetzt in ihren Betten und warteten auf das Frühstück. Die wenigsten hatten überhaupt ein Frühstück zu sich nehmen können, und die anderen waren dabei auf die Hilfe der Schwestern angewiesen. Es durfte nicht viel Zeit verloren gehen, wenn mir die Schwester mein Frühstück eingab. Nachdem ich in den ersten Tagen sozusagen künstlich ernährt worden war wie die meisten anderen und, so die Ärztesprache, an eine Traubenzuckerinfusion angehängt gewesen war, konnte mir jetzt schon das Normalfrühstück aus Kaffee und Semmeln eingegeben und eingeflößt werden. Alle Patienten waren ausnahmslos an Infusionen angehängt, und da aus der Entfernung die Schläuche wie Schnüre ausschauten, hatte ich immer den Eindruck, die in ihren Betten liegenden Patienten seien an Schnüren hängende, in diesen Betten liegengelassene Marionetten, die zum Großteil überhaupt nicht mehr, und wenn, dann nur noch selten, bewegt wurden. Aber diese Schläuche, die mir immer wie Marionettenschnüre vorgekommen sind, waren für die an diesen Schnüren und also Schläuchen Hängenden meistens nurmehr noch die einzige Lebensverbindung. Wenn einer käme und die Schnüre und also Schläuche abschnitte, hatte ich sehr oft gedacht, wären die daran Hängenden im Augenblick tot. Das Ganze hatte viel mehr, als ich mir zuzugeben gewillt gewesen war, mit dem Theater zu tun und war auch Theater, wenn auch ein schreckliches und erbärmliches. Ein Marionettentheater, das, einerseits nach einem genau ausgeklügelten System, andererseits immer wieder auch vollkommen, wie mir vorgekommen war, willkürlich von den Ärzten und Schwestern bewegt worden ist. Der Vorhang in diesem Theater, in diesem Marionettentheater auf der anderen Seite des Mönchsberges, ist allerdings immer offen gewesen. Die ich im Sterbezimmer auf diesem Marionettentheater zu sehen bekommen hatte, waren allerdings alte, zum Großteil uralte, längst aus der Mode gekommene, wertlose, ja unverschämt vollkommen abgenützte Marionetten, an welchen hier im Sterbezimmer nurmehr noch widerwillig gezogen worden ist und die nach kurzer Zeit auf den Mist geworfen und verscharrt oder verbrannt worden sind. Ganz natürlich hatte ich hier den Eindruck von Marionetten haben müssen, nicht von Menschen, und gedacht, daß alle Menschen eines Tages zu Marionetten werden müssen und auf den Mist geworfen und eingescharrt oder verbrannt werden, ihre Existenz mag davor wo und wann und wie lang auch immer auf diesem Marionettentheater, das die Welt ist, verlaufen sein. Mit Menschen hatten diese an ihren Schläuchen wie an Schnüren hängenden Figuren nichts mehr zu tun. Da lagen sie, ob sie nun in ihren Rollen einmal gut oder schlecht geführt worden waren, wertlos, nicht einmal mehr als Requisiten verwendbar. Zwischen Frühstück und Visite hatte ich meistens ungestört Zeit für meine Beobachtungen. Kamen die Prosekturmänner mit ihrem Zinkblechsarg, hatte ich immer denken müssen, sie räumen den Fundus aus. Die Visite hatte sich tatsächlich nur mit mir beschäftigt, die anderen interessierten nicht, die anderen betreffend hatte es keine Diskussion mehr gegeben, die Ärzte, hinter ihnen die Schwestern, waren, wie mir schien, schon vollkommen interesselos den ganzen Krankensaal abgeschritten, bevor sie schließlich vor meinem Bett und vor meiner Person Halt machten. Kann sein, daß es sie irritierte, daß ich, aus welchem Grund immer, in dem Sterbezimmer lag, aber sie änderten diesen Zustand nicht. Warum auch. Die Umstände hatten mich in dieses Zimmer, in diesen Saal, in das Sterbezimmer hereingebracht, ich war nicht gestorben, ich war übriggeblieben, da lag ich, ein Sonderfall, der ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen mußte. Ich hatte aber von Anfang an den Eindruck, daß es sie, vornehmlich die
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