Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
gelungen: ein eingefallener Kahlkopf war durch den offenen Mund an einem Gummischlauch mit einem rötlichen Sauerstoffpolster verbunden. Jetzt war mir klar, die Schwester, die alle Augenblicke an das Gitterbett getreten war, hatte das immer wieder nur zu dem Zwecke getan, den Schlauch, der von dem immer wieder rutschenden Sauerstoffpolster von Zeit zu Zeit aus dem Mund des Kahlkopfes herausgezogen und dadurch vollkommen sinnlos geworden war, wieder in den Mund und also in den Kahlkopf hineinzustecken. Das fortwährende, Tag und Nacht andauernde, immer weniger und doch immer wieder ziehende Geräusch aus dem Gitterbett vor mir hatte seine Erklärung gefunden. An den wie die Wangen eingefallenen Schläfen des Kahlkopfes hatten sich in der von dem Sauerstoffpolster rhythmisch bewegten Luft kleine weiße Härchen bewegt. Da das Gitterbett seitlich zu dem meinigen aufgestellt war, hatte ich nicht eruieren können, was auf seiner Personalientafel stand. Es war nicht zu bestimmen, wie alt der an dem Sauerstoffpolster ziehende Mann war, er hatte die Grenze, unter welcher ein Lebensalter noch abzulesen ist, längst überschritten gehabt. Es muß die nachmittägige Besuchsstunde gewesen sein, in welcher der Mann an dem Sauerstoffpolster gestorben ist. Ich erinnere mich genau: meine Mutter hatte sich gerade neben mich auf den Sessel gesetzt und mir eine Orange geschält und zerkleinert. Während sie die einzelnen Orangenspalten sorgfältig auf eine Serviette auf meinem Leintuch legte, damit sie für sie und also auch für mich leicht erreichbar waren, ich selbst hatte noch nicht einmal die Kraft, eine Hand zu heben, und meine Mutter mir nacheinander die Orangenspalten in meinen Mund steckte, hatte der Mann im Gitterbett plötzlich aufgehört, an seinem Sauerstoffpolster zu ziehen. Darauf hatte er so lange ausgeatmet, wie ich noch nie einen Menschen ausatmen gehört hatte. Ich bat meine Mutter, sich nicht umzudrehen. Ich hatte ihr den Anblick des in diesem Augenblick Gestorbenen ersparen wollen. Sie hatte nicht aufgehört, mir von den Orangenspalten zu geben. Sie hatte sich nicht umgedreht und nicht gesehen, wie der Mann von der Schwester zugedeckt worden war. Das Zudecken der Verstorbenen geschah immer so: die Schwester zog ganz einfach, am Fußende des Bettes stehend, das Leintuch unter dem Toten heraus und deckte damit den Toten zu. Aus ihrer Tasche nahm sie ein Bündel mit kleinen numerierten Kärtchen an kurzen Schnüren heraus. Eines dieser Kärtchen befestigte sie mit der Schnur an einer großen Zehe des Toten. Diesen Vorgang, daß der gerade Gestorbene auf diese Weise zugedeckt und für die Prosektur numeriert wird, hatte ich jetzt zum erstenmal am Beispiel dieses Mannes im Gitterbett gesehen. Jeder Gestorbene wurde auf die gleiche Weise zugedeckt und numeriert. Die Vorschrift verlangte, daß der Verstorbene drei Stunden in seinem Totenbett liegen mußte und daß er erst dann von den Männern der Prosektur abgeholt werden durfte. Zu meiner Zeit aber genügten, weil jedes Bett gebraucht wurde, zwei Stunden. Zwei Stunden hatte der Tote, mit seinem Leintuch zugedeckt, auf einem Kärtchen an einer großen Zehe für die Prosektur numeriert, im Zimmer zu liegen, wenn er nicht, weil vorauszusehen gewesen war, daß er in kurzer Zeit starb, im Badezimmer gestorben war. Ein im Krankensaal und also im Sterbezimmer Verstorbener hatte immer nur ein paar Minuten Betroffenheit unter den Sterbezeugen hervorgerufen, nicht mehr. Manchmal war ein solcher Tod mitten unter uns vollkommen unauffällig vorbeigegangen und hatte niemanden und nichts mehr gestört. Auch die Prosekturmänner, die mit ihrem Zinkblechsarg, ich kann ruhig sagen, alle Augenblicke in das Sterbezimmer hereintrampelten, rohe, starke Männer in den Zwanzigern und Dreißigern, und bei dieser Gelegenheit schon auf dem Gang und erst recht im Sterbezimmer viel Lärm verursacht hatten, waren mir schon bald zur Gewohnheit geworden. Wenn den Schwestern ein Sterbender mit seinem Sterben zuvorgekommen war, wie der Mann im Gitterbett, war es ihnen nur selbstverständlich gewesen, daß sie kurz darauf den Krankenhausgeistlichen hereinholten, damit er, wenn schon nicht mehr an dem noch Lebenden, so doch an dem schon Toten die Letzte Ölung vollziehen konnte. Zu diesem Zwecke hatte der mit den größten Atembeschwerden in das Sterbezimmer gerufene, von viel zuviel Essen und Trinken aufgedunsene Geistliche einen kleinen, schwarzen, silberbeschlagenen Koffer bei sich, den er sofort,
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