Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
nachdem er hereingekommen war, auf dem von den Schwestern mit unglaublicher Geschwindigkeit freigemachten Nachtkästchen des gerade Gestorbenen abstellte. Der Geistliche brauchte nur an zwei Seitenknöpfen des Koffers zu drücken, und der Koffer öffnete sich, indem der Deckel emporschnellte. Im Emporschnellen des Deckels waren automatisch zwei Kerzenleuchter mit Kerzen und ein Christuskreuz aus Silber in senkrechte Stellung gebracht. Jetzt wurden die Kerzen von den Schwestern angezündet, und der Geistliche konnte mit seinem Zeremoniell beginnen. Kein Toter hat ohne diesen geistlichen Beistand das Sterbezimmer verlassen dürfen, darauf haben die Schwestern, Vinzentinerinnen, wie auf nichts sonst geachtet. Aber solche außertourlichen Letzten Ölungen im Sterbezimmer waren selten. Es gehörte zum Tagesablauf, daß gegen fünf Uhr in der Früh und gegen acht Uhr am Abend der Geistliche automatisch mit seinem Sakramentenkoffer erschien, um sich bei den Schwestern nach jenen zu erkundigen, für welche der Zeitpunkt der Letzten Ölung gekommen war. Die Schwestern deuteten dann auf diesen oder jenen, und der Geistliche waltete, wie gesagt wird, seines Amtes. An manchen Tagen waren auf diese Weise bis zu vier oder fünf Zimmergenossen der Letzten Ölung teilhaftig geworden. Sie alle hatten nicht lange darauf
das Zeitliche gesegnet
. Aber immer wieder einmal hatten sich die Schwestern verrechnet, und es war ihnen einer ohne die Letzte Ölung weggestorben, die aber dann sofort bei der ersten Gelegenheit an dem Toten pflichteifrigst nachgeholt wurde. Tatsächlich haben die Schwestern auf die zu verabreichende Letzte Ölung immer und unter allen Umständen eine größere Aufmerksamkeit gelegt als auf alles andere. Das ist nicht gegen ihre ununterbrochen und fast immer auch bis an die äußerste Grenze der Selbstaufopferung gegangene tagtägliche Leistung gesagt, aber die Wahrheit. Das Auftreten und noch viel mehr das eigentliche Geschäft des Krankenhausgeistlichen hatte mich vom ersten Augenblick an so abgestoßen, daß ich seine Auftritte als eine pervers katholische Schmierendarstellung kaum ertragen konnte. Aber auch diese Auftritte waren bald nurmehr noch eine Gewohnheit und wie alles andere Abstoßende und Schreckliche in diesem Sterbezimmer kaum mehr erregende, ja nicht einmal mehr irritierende Alltäglichkeit geworden. Der Tagesablauf im Sterbezimmer, von meinem Eckbettplatz aus betrachtet, war vorgeschrieben folgender: gegen halb vier Uhr früh war, noch von der Nachtschwester, das Licht aufgedreht worden. Jedem einzelnen Patienten, ob er bei Bewußtsein war oder nicht, wurde daraufhin von der Nachtschwester aus einem mit Dutzenden von Fieberthermometern angefüllten Einsiedeglas ein solches Fieberthermometer zugesteckt. Nach dem Einsammeln der Fieberthermometer hatte die Nachtschwester Dienstschluß, und die Tagschwestern kamen mit Waschschüsseln und Handtüchern herein. Der Reihe nach wurden die Patienten gewaschen, nur ein oder zwei hatten aufstehen und zum Waschbecken gehen und sich selbst waschen können. Wegen der großen Jännerkälte war das einzige Fenster im Sterbezimmer die ganze Nacht und dann bis in den späteren Vormittag nicht und erst knapp vor der Visite aufgemacht worden, und so war der Sauerstoff schon in der Nacht längst verbraucht und die Luft stinkend und schwer. Das Fenster war mit dickem Dunst beschlagen, und der Geruch von den vielen Körpern und von den Mauern und den Medikamenten machte in der Frühe das Ein- und Ausatmen zur Qual. Jeder Patient hatte seinen eigenen Geruch, und alle zusammen entwickelten einen solchen aus Schweiß- und Medikamentendunst zusammengesetzten, zu Husten- und Erstickungsanfällen reizenden. So war, wenn die Tagschwestern auftauchten, das Sterbezimmer aufeinmal eine einzige abstoßende Gestank- und Jammerstätte, in welcher die während der Nacht zugedeckten und niedergehaltenen Leiden plötzlich wieder in ihrer ganzen erschreckenden und bösartigen Häßlichkeit und Rücksichtslosigkeit aufgedeckt und ans Licht gebracht waren. Allein diese Tatsache hätte genügt, um schon in aller Frühe wieder in tiefste Verzweiflung zu stürzen. Aber ich hatte mir vorgenommen, alles in diesem Sterbezimmer, also auch alles mir noch Bevorstehende, auszuhalten, um aus diesem Sterbezimmer wieder herauszukommen, und so hatte ich mit der Zeit einen mich ganz einfach von einem bestimmten Zeitpunkt an nicht mehr schädigenden, sondern belehrenden Mechanismus der Wahrnehmung in dem
Weitere Kostenlose Bücher