Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
gekommen sind. Diesem hatte er auch seinen schriftstellerischen Nachlaß vererbt. Aber naturgemäß war ich mit diesen Einzelheiten im Krankenhaus noch nicht in Berührung gekommen. Die Vorgänge im Sterbezimmer beanspruchten nach wie vor den Großteil meiner Aufmerksamkeit. Eines Tages war mir, von seiten des Primars, der Vorschlag gemacht worden, aus dem Sterbezimmer in ein anderes, wie der Primar sich ausgedrückt hatte,
freundlicheres Zimmer
zu übersiedeln, urplötzlich mußte ihm die ganze Fürchterlichkeit und gleichzeitig Unsinnigkeit, mich überhaupt in das Sterbezimmer hereingelegt zu haben, zu Bewußtsein gekommen sein, wenigstens jetzt hatte er diesen Fehler gutmachen wollen, indem er mich während der Visite mehrere Male aufforderte, aus dem Sterbezimmer in ein
anderes, freundlicheres Zimmer
zu übersiedeln, diese Wörter
in ein anderes, freundlicheres Zimmer
habe ich noch heute im Ohr, dazu sehe ich auch noch immer ganz deutlich das Gesicht des Primars, der immer wieder wiederholt hatte,
in ein anderes, freundlicheres Zimmer
, wobei ihm nicht einen Augenblick die Infamie und die Entsetzlichkeit dieser seiner Wörter zu Bewußtsein gekommen waren.
In ein freundlicheres Zimmer
, hatte er immer wieder gesagt, und in seiner ihm schon ganz natürlichen Roheit und Geistlosigkeit nicht begriffen, was er gesagt hatte. Ich wollte keine räumliche Veränderung mehr und bestand darauf, in dem Sterbezimmer zu bleiben, das mir im Laufe der Wochen und Monate zur Gewohnheit geworden war. Der Primarius hätte mich zwingen können, das Sterbezimmer zu verlassen, aber er hatte schließlich kopfschüttelnd aufgegeben. Ich hatte lange über die Kopflosigkeit und gleichzeitig Unverschämtheit und Niedertracht nachdenken müssen, die den Primarius so oft
in ein freundlicheres Zimmer
hatte sagen lassen, eine solche Bemerkung mußte mich für Stunden zu einer Auseinandersetzung mit der menschlichen Roheit und mit dem Stumpfsinn, in den diese Roheit verpackt ist, zwingen. Von Körperschmerz frei, wenn auch noch immer den fortwährenden medizinischen und außermedizinischen Belästigungen unterworfen, die in einem solchen Krankenzimmer wie dem Sterbezimmer unvermeidlich sind, und jetzt auch schon in der Gewohnheit, selbst das Fürchterliche als eine leicht zu verarbeitende Alltäglichkeit hinter mich zu bringen, ein Meister, hatte ich alle Voraussetzungen, über das, was ich immer eindringlicher zu beobachten hatte, nachzudenken und mir, sozusagen als willkommene Abwechslung, viele dazu geeignete Anschauungen oder Vorkommnisse zu einem lehrreichen Studiergegenstand zu machen. Ich hatte, an einem gewissen, schon sehr weit fortgeschrittenen Punkt meines Heilungsprozesses, mein Vergnügen am Denken und also am Zerlegen und Zersetzen und Auflösen der von mir angeschauten Gegenstände wiederentdeckt. Ich hatte jetzt Zeit dazu und war in Ruhe gelassen. Der Analytiker hatte jetzt wieder die Oberhand. Eines Tages war mir vom Primarius nicht die Entlassung, sondern die Überführung meiner Person aus dem Krankenhaus in ein sogenanntes Erholungsheim in Großgmain, ein am Fuße des Untersberges und ganz nahe der bayrischen Grenze gelegenes Bauerndorf, angekündigt worden. Dieses Erholungsheim war eine Dependance des Krankenhauses gewesen, früher, vor dem Kriege, ein Hotel, das es heute wieder ist. Aber bis dahin hatten noch ein, zwei Wochen zu vergehen. Ich hatte schon aufstehen und unter Mithilfe der Schwestern, dann, regelmäßig während der Besuchszeit, meiner Mutter wieder gehen gelernt. Die ersten Aufsteh- und überhaupt Stehversuche waren naturgemäß kläglich gescheitert, plötzlich hatte ich mich von meinem Bett, das ich umklammert gehabt hatte, lösen und ein paar Schritte machen können. Mit jedem Tag waren es mehr Schritte gewesen. Meine Mutter hatte diese Schritte gezählt und hatte beispielsweise am Montag gesagt
acht Schritte
, am Dienstag
elf Schritte
, am Mittwoch
vierzehn Schritte
undsofort. Rückschritte waren eine Selbstverständlichkeit. Eines Tages hatte ich meine Mutter vor der Tür des Sterbezimmers empfangen können, wir waren beide glücklich gewesen. Sie hatte mir von einem bestimmten Zeitpunkt an Zeitungen, Zeitschriften, schließlich Bücher mitgebracht, Novalis, Kleist, Hebel, Eichendorff, Christian Wagner, die ich zu dieser Zeit wie keine anderen geliebt habe. Es war auch vorgekommen, daß sie mit einem Buch an meinem Bett saß und in dem Buch las, ich in einem anderen Buch, das sind für mich die
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