Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
schönsten Besuche meiner Mutter gewesen. Sie erzählte aus ihrer Kindheit oder von ihrer Jugend, die nicht weniger schwierig gewesen war als die meinige, von ihren Eltern, meinen Großeltern, vieles, das mir unbekannt war, von der lebenslänglich glücklichen Verbindung meiner Großeltern, ihren Reisen, Abenteuern, ihrem Altern. Hier im Sterbezimmer hatte ich aufeinmal die enge und liebevolle Beziehung zu meiner Mutter haben können, die ich die ganzen langen achtzehn Jahre vorher so schmerzlich entbehren hatte müssen. Die Krankheit hatte die Kraft, uns anzunähern und nach so langer Zeit der Trennung wieder zu verbinden, das Kranksein überhaupt, in welchem wir wieder zusammengekommen waren. Wenn die Mutter erzählte oder mir aus einem Buche vorgelesen hatte, von welchem ich wußte, daß es eines der Lieblingsbücher meines Großvaters gewesen war, wie beispielsweise aus der
Empfindsamen Reise
des Lawrence Sterne, hatte ich die zwei Besuchsstunden zuhören können ohne Unterbrechung, nur in dem einzigen Gefühl und in dem einzigen Gedanken, daß das Vorlesen meiner Mutter nicht aufhören möge. Aber die Schwester, die mit den Fieberthermometern in das Sterbezimmer hereingekommen war und mit ihrem Auftritt die Besuchszeit für beendet erklärte, hatte das Vorlesen immer abrupt beendet. Meine Mutter und ich hatten so kurze Zeit nach seinem Tod nicht viel über meinen Großvater, ihren Vater, gesprochen, alles war noch von diesem seinem Tod bestimmt gewesen, aber der wurde durch unser Schweigen erträglicher. Er, mein Großvater, so meine Mutter, habe an der Mauer außerhalb des Friedhofs ein Grab bekommen, das einzige auf einer außer seinem Grabe noch völlig freien Fläche, auf welcher ein ganz neuer Teil des Friedhofs geplant sei. Sie gehe jeden Tag hin, stehe ein paar Minuten an dem Grab und gehe wieder nach Hause. Es falle ihr schwer, in das Großvaterzimmer hineinzugehen, in welchem noch immer der für dieses Großvaterzimmer charakteristische Geruch sei. Sie wolle das Großvaterzimmer so lange wie möglich nicht lüften, also seine Fenster geschlossen lassen, um den Geruch zu erhalten. Sie habe jetzt fortwährend das Gefühl, daß ihr eigenes Leben, das mit dem ihres Vaters auf so merkwürdig
hörige
Weise, wie sie sich ausdrückte, verbunden gewesen war, jetzt sinnlos geworden sei. Sie schlafe nicht und ihre Sorge gelte ausschließlich meiner Zukunft, vor welcher sie vollkommen ratlos sei. Die Gespräche, im Grunde nur kürzere, ja kürzeste Unterhaltungen mit ihrem Mann, meinem Vormund, zu welchem ich zeitlebens immer
Vater
gesagt habe, klärten nichts, stürzten sie nur immer noch tiefer in Ratlosigkeit und Verzweiflung. Ihre jüngeren Kinder, meine Geschwister, verstünden nichts, aber seien von allen diesen schrecklichen Geschehnissen und Ereignissen betroffen, arg in Mitleidenschaft gezogen gerade in dem Alter, in welchem sie am meisten zu schützen und zu schonen gewesen wären, was ihr Angst mache. Die Ursachen der Krankheit meines Großvaters, seines Todes schließlich, der ihm in einem Alter gekommen sei, in welchem er unter anderen Umständen nicht habe zu sterben brauchen, im Alter von siebenundsechzig Jahren, so meine Mutter, wie auch die meiner Krankheit seien in dem Krieg zu suchen, der uns alle seelisch und geistig und körperlich so lange ausgehungert und gedemütigt habe. Ich hatte zeitlebens ein distanziertes, von Mißtrauen, ja von Argwohn niemals freies, zu manchen Zeiten sicher sogar ein feindseliges Verhältnis zu meiner Mutter gehabt, die Ursachen wären noch einmal zu untersuchen, aber das führte an dieser Stelle zu weit und wäre in jedem Falle heute noch zu früh, aber jetzt glaubte ich, sie, meine Mutter, wiedergefunden, ja für mich wiederentdeckt zu haben. Ihr Wesen, war mir aufeinmal deutlich geworden, war dem meines Großvaters am nächsten, ihres näher als das ihres Bruders, meines Onkels. Ich erinnere mich, daß sie, an meinem Bett sitzend, die Besuchszeit mir als eine sehr kurze erscheinen hatte lassen, wenn sie erzählte, alles, was sie sagte, war voller Anmut, Empfindsamkeit, Aufmerksamkeit. Sie war ihrem Vater eine liebevolle Tochter, mir erst jetzt eine ebensolche liebevolle Mutter, mit welcher ich aufeinmal längere Zeit ohne Mißverständnisse zusammensein konnte. Die Härte dieser immer in dem höchsten Schwierigkeitsgrade vollzogenen Beziehung war weg gewesen. Meine Mutter war, wie nicht unrichtig gesagt wird,
musikalisch
gewesen, hatte eine schöne Stimme und
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