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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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nicht, sie verschlimmerte sich mit der Zeit, auch meine eigene, ich fürchtete, hier genau denselben Weg gehen zu müssen wie die vor mir nach Grafenhof Eingewiesenen, an welchen ich nichts als die Trostlosigkeit ihrer Verfassung ablesen, an welchen ich nichts anderes als den Verfall studieren konnte. Auf meinem ersten Weg in die Kapelle, in welcher täglich eine Messe zelebriert worden ist, hatte ich ein Dutzend Partezettel an den Wänden zu lesen bekommen, lakonische Texte über in den letzten Wochen Verstorbene, die, so mein Gedanke, gerade noch wie ich durch diese hohen kalten Gänge gegangen waren. In ihren schäbigen Nachkriegsschlafröcken, abgetretenen Filzpantoffeln, schmutzigen Nachthemdenkragen zogen sie, die Fiebertafeln unter ihre Arme geklemmt, an mir vorüber, hintereinander, ihre Blicke argwöhnisch auf mich gerichtet, ihr Ziel war die Liegehalle gewesen, eine halbverfallene Holzveranda im Freien, angebaut an das Hauptgebäude, offen gegen das Heukareck, den zweitausend Meter hohen Berg, der vier Monate lang ununterbrochen seinen kilometerlangen Schatten auf das unter der Heilstätte liegende Tal von Schwarzach warf, in welchem in diesen vier Monaten die Sonne nicht aufging. Welche infame Scheußlichkeit hat sich der Schöpfer hier ausgedacht, war mein Gedanke gewesen, was für eine abstoßende Form von Menschenelend. Im Vorübergehen schraubten diese zweifellos endgültig aus der Menschengesellschaft Ausgestoßenen widerwärtig, armselig und wie in einem heiligen Stolze verletzt, ihre braunen Glasspuckflaschen auf und spuckten hinein, mit einer perfiden Feierlichkeit holten sie hier überall schamlos und in einer nur ihnen eigenen raffinierten Kunst das Sputum aus ihren angefressenen Lungen und spuckten es in die Spuckflaschen. Die Gänge waren von diesem feierlichen Ziehen an Dutzenden und Aberdutzenden von zerfressenen Lungenflügeln und vom Schlurfen der Filzpantoffeln auf dem karbolgetränkten Linoleum erfüllt. Eine Prozession fand hier statt, die auf der Liegehalle endete, in einer Feierlichkeit, wie ich sie bis dahin nur bei katholischen Begräbnissen konstatiert hatte, jeder Teilnehmer an dieser Prozession trug seine eigene Monstranz vor sich her: die braune Glasspuckflasche. Wenn der letzte auf die Liegehalle getreten war und sich dort niedergelassen hatte in der langen Reihe verrosteter Gitterbetten, wenn sich alle diese von ihrer Krankheit längst verunstalteten Körper mit ihren langen Nasen und großen Ohren, mit ihren langen Armen und krummen Beinen und mit ihrem penetrant-fauligen Geruch eingewickelt hatten in diese abgewetzten, grauen, muffigen, überhaupt nicht mehr wärmenden Decken, die ich doch nur noch als Kotzen bezeichnen konnte, herrschte Ruhe. Noch stand ich da, in einer Ecke, von welcher aus ich alles mit größter Deutlichkeit sehen, in der ich selbst aber kaum entdeckt werden konnte,
als der Beobachter
einer mir neuen Ungeheuerlichkeit, ja absoluten Menschenunwürdigkeit, die nichts als abstoßend, die Häßlichkeit und die Rücksichtslosigkeit zur Potenz gewesen war, und gehörte doch im Augenblick schon dazu; auch ich hatte ja schon die Spuckflasche in Händen, die Fiebertafel unter dem Arm, auch ich war schon auf dem Weg in die Liegehalle. Erschrocken suchte ich in der langen Reihe der Gitterbetten das meinige auf, das drittletzte zwischen zwei wortlosen alten Männern, die stundenlang wie tot in ihren Betten lagen, bis sie sich plötzlich aufrichteten und in ihre Spuckflaschen spuckten. Alle Patienten produzierten ununterbrochen Sputum, die meisten in großen Mengen, viele von ihnen hatten nicht nur eine, sondern mehrere Spuckflaschen bei sich, als hätten sie keine vordringlichere Aufgabe, als Sputum zu produzieren, als feuerten sie sich gegenseitig zu immer größerer Sputumproduktion an, ein Wettbewerb fand hier jeden Tag statt, so schien es, in welchem am Abend derjenige den Sieg davongetragen hatte, welcher am konzentriertesten und die größte Menge in seine Spuckflasche ausgespuckt hatte. Auch von mir hatten die Ärzte nichts anderes erwartet, als mich augenblicklich an diesem Wettbewerb zu beteiligen, aber ich mühte mich umsonst ab, ich produzierte kein Sputum, ich spuckte und spuckte, aber meine Spuckflasche blieb leer. Tagelang hatte ich den Versuch gemacht, etwas in die Flasche zu spucken, es gelang nicht, mein Rachen war von meinen verzweifelten Versuchen, spucken zu können, schon ganz aufgerissen, er schmerzte bald wie unter einer entsetzlichen

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