Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
gemacht, dachte ich. Wenn der Pneu nicht genug ist, kommt die Kaustik. Auf die Kaustik folgt die Plastik. Ich hatte ja jetzt schon einen hohen Stand der Wissenschaft von der Lungenkrankheit erreicht, ich wußte Bescheid. Es begann immer mit dem Pneu. Tagtäglich standen Dutzende zur Füllung an. Eine Routinesache, wie ich sah, alle hier hingen immer wieder an Schläuchen, wurden gestochen, es war alltäglich. Sie würden mit einer Streptomyzinbehandlung anfangen, dachte ich. Tatsächlich war das Ergebnis, daß ich positiv sei, mit Genugtuung aufgenommen worden bei meinen Mitpatienten. Sie hatten erreicht, was sie wollten: keinen Außenseiter. Jetzt war ich würdig, unter ihnen zu sein. Wenn ich auch nur die
Niederen Weihen
erlangt hatte, so war ich doch in gewisser Weise ebenbürtig. Aufeinmal hatte ich wie sie eingefallene Wangen, eine lange Nase, große Ohren, einen aufgeschwemmten Bauch. Ich gehörte zu der Kategorie der Abgemagerten, nicht zu der Kategorie der Aufgeschwemmten. Zuerst sind die Lungenkranken abgemagert, dann sind sie aufgeschwemmt, dann sind sie wieder abgemagert. Die Krankheit verläuft von der Abmagerung über die Aufschwemmung bis zur Abmagerung. Bei Eintritt des Todes sind sie alle vollkommen abgemagert. Ich war schon sehr geschickt im Tragen der Anstaltskleidung, ich schlurfte so wie sie mit meinen Filzpantoffeln über die Gänge, ja ich hustete auf einmal schamund rücksichtslos in die Gegend, gleich, ob ich allein war oder nicht, ich entdeckte mich bei so vielen Nachlässigkeiten und Ungezogenheiten und Unmöglichkeiten selbst, die mir gerade zuvor bei den andern als absolut unzulässig und widerwärtig aufgefallen waren. Da ich nun einmal da war, wollte ich in diese Gemeinschaft gehören, auch wenn es sich um die scheußlichste und entsetzlichste Gemeinschaft handelte, die sich denken läßt. Hatte ich eine andere Wahl? War es nicht folgerichtig, daß ich hier gelandet war? War nicht mein ganzes bisheriges Leben auf dieses Grafenhof hin konstruiert gewesen? Auch ich war ein Kriegsopfer! Ich tauchte unter, alles habe ich für dieses Untertauchen getan. Hier wird gestorben, sonst nichts, ich richtete mich darauf ein, ich war keine Ausnahme. Was ich drei, vier Wochen vorher noch für unmöglich gehalten hatte, war mir gelungen: zu sein wie sie. Aber stimmte das auch? Ich verdrängte diesen Gedanken, ich richtete mich in der Todesgemeinschaft ein, ich hatte alles bis auf mein Hiersein verloren. Ich hatte keine andere Wahl, als mich für diese hier herrschende Pflicht aufzugeben, vollkommen aufzugeben für die Tatsache, ein Lungenkranker zu sein, mit allen Konsequenzen, ohne Rückzugsmöglichkeit. Ich hatte ein Bett im Schlafzimmer, ein Spind auf dem Gang, ein Bett auf der Liegehalle, einen Platz im Speisesaal. Mehr hatte ich nicht, wenn ich die Erinnerung ausschaltete. Gierig schaute ich mich nach irgendeinem Leidensgenossen um, dem ich mich hätte öffnen können, aber ich fand keinen, wenigstens nicht in den ersten Wochen. Es hatte nicht den geringsten Sinn gehabt, sich gegen die natürliche Entwicklung zur Wehr zu setzen, ich mußte ganz einfach die graue Farbe, die hier herrschte, annehmen, um es aushalten zu können, mich gleichmachen. Wenn ein Neuer kam, beobachtete ich genauso argwöhnisch seine Entwicklung, wie meine Vorgänger meine Entwicklung beobachtet hatten, mit der kalten und skrupellosen Eindringlichkeit des Opfers, das keine Bevorzugung duldet. Wie aus einem Menschen eine nichtswürdige Kreatur wird, die als Mensch nicht mehr zur Kenntnis genommen wird. Jetzt hatte ich, so mein Gedanke, die Möglichkeit, Gesunde anzustecken, ein Machtmittel, mit welchem alle Lungenkranken, alle Träger ansteckender Krankheiten von jeher ausgestattet sind, dasselbe Machtmittel, das ich an jenen bis daher verabscheut hatte, die mich wochenlang mit ihren Blicken, mit ihrer Gemeinheit, mit ihrer Schadenfreude gejagt und verfolgt hatten. Jetzt konnte ich selbst aushusten und annehmen, eine Existenz zu vernichten! Dachte ich nicht genauso wie sie? Ich haßte plötzlich alles, das gesund war. Mein Haß richtete sich von einem Augenblick auf den andern gegen alles außerhalb von Grafenhof, gegen alles in der Welt, selbst gegen die eigene Familie. Aber dieser Haß starb bald ab, denn er hatte hier keine Nahrung, hier war alles krank, vom Leben abgetrennt, ausgeschlossen, auf den Tod konzentriert, auf ihn ausgerichtet. Vor fünfzig Jahren hätten sie alle, ohne zu zögern, gesagt:
todgeweiht
. Die
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