Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
Vom Netzwerk:
Außenwelt hatte sich längst entfernt, sie war überhaupt nicht mehr wahrnehmbar, was in diese Mauern hereinkam, war schon so abgetakelt, daß es nurmehr noch als gemeine Lüge empfunden werden konnte, spärliche Nachrichten ohne Wirkung. Ganze Erdteile hätten explodieren können, es hätte hier, wo der Spucknapf herrschte, keinerlei Interesse erweckt. Alles war auf die Erzeugung von Sputum, auf qualvolles, gleichzeitig kunstvolles Ein- und Ausatmen konzentriert, auf die tagtägliche Therapieangst, Operationsangst, Todesangst. Und wie sich mit den Ärzten, vor allem mit dem Primarius, arrangieren. In diesem Punkt war ich chancenlos, ein magerer Kaufmannslehrling, das Gesicht voller Pickel, ein achtzehnjähriger Anonymus ohne die geringste Reputation, bar jeder Fürsprache, von der Gebietskrankenkasse eingewiesen, mit einem Gepäck angekommen, das nur die tiefste Geringschätzung wert gewesen war: ein alter Papierkoffer aus dem Krieg, zwei billige, abgetragene amerikanische Hosen, zwei ausge-waschene Militärhemden, zerstopfte Socken, an den Füßen zerfetzte Gummischuhe. Der Walkjanker meines Großvaters war mein Prunkstück gewesen, nicht vergessen darf ich den Klavierauszug der
Zauberflöte
und Haydns
Schöpfung
. Ein Blick genügte, um mich in das minderwertigste aller Zimmer einzuweisen, in das größte nordseitige mit seinen zwölf Betten, in welchem untergebracht war, was auch heute noch als unterprivilegiert bezeichnet wird: Hilfsarbeiter, Lehrlinge. In diesem Zimmer hauste aber auch ein sogenannter Doktor der Rechte, der als verkommen galt. Erst nach und nach erklärte ich mir sein Dasein. Jeder hatte ein Spind auf dem Gang, an dessen Ende gab es zwei Toiletten für ungefähr achtzig Männer und einen einzigen Waschraum, das Gedränge in der Frühe kann sich jeder vorstellen, wenn diese achtzig beinahe gleichzeitig auf die Toiletten und in den Waschraum stürzten, herrschte das Chaos, aber der Mensch gewöhnt sich erstaunlich schnell an Tatsachen dieser Art, wenn sie sich tagtäglich wiederholen, er braucht drei, vier Tage, dann ist ihm der Mechanismus vertraut, er hat keine Wahl, er fügt sich, er macht mit, er fällt nicht mehr auf. Der Individualist wird ausgemacht und abgetötet. Wie die Schweine an den Trog drängten sich die Patienten an die Wasserleitungen im Waschraum, und die stärkeren stießen die schwächeren einfach weg, die Wasserhähne waren an jedem Morgen immer wieder im Besitz der gleichen Leute, Fußtritte, Schläge in die Weichteile machten diesen Waschraumfanatikern den Weg augenblicklich frei, die Lungenkranken entwickeln im Bedarfsfall unheimliche Körperkräfte. Die Todesangst macht sie stark, erhebt die Rücksichtslosigkeit zum Prinzip, der Ausgestoßene, der Todeskandidat hat nichts zu verlieren. Es ging ihnen mehr um die Erfrischung als um die Reinigung ihres Körpers. Viele betraten den Waschraum nur einmal wöchentlich, viele auch noch seltener, vor Untersuchungen selbstverständlich, denn da sollten sie sauber erscheinen, aber Sauberkeit ist, wie alle andern, ein relativer Begriff. Der Geruch in den Zimmern und in der ganzen Heilstätte war nichts für einen empfindsamen Menschen, er war dem Grau, das hier herrschte, entsprechend. Umso auffallender gebärdeten sich bei ihrem Auftreten die schneeweißen Ärztekittel. Visite war um neun Uhr, das Ärztetriumvirat erschien am Eingang der Liegehalle, Patientenköpfe, die gerade noch in der Höhe waren, fielen automatisch zurück, das Liegespalier war reglos. Die Hände in die Hüften gestemmt, bestimmte der Primarius die Therapien, verordnete er die Medikamente, indem er von Bett zu Bett ging. Manchmal beugte er sich vor und klopfte einem Patienten auf die Brust, der Blick auf eine Fiebertafel löste bei ihm sehr oft ein Gelächter aus, das das Tal erfüllte. Mit den Herren Kollegen unterhielt er sich nur in Gemurmel. Weit über sechzig, gedrungen, verfettet, hatte er ein streng militärisches Gehaben und betrachtete die Patienten auch als gemeine Soldaten, mit welchen er umspringen konnte, wie er wollte. Er war schon im Krieg hier Primar gewesen und, obwohl Nationalsozialist, bei Kriegsende nicht zum Teufel gejagt, wahrscheinlich weil kein Ersatz vorhanden gewesen war. Von diesem Manne durfte ich nichts erwarten, hatte ich schon im ersten Augenblick gedacht, und mein erster Eindruck hatte sich immer mehr bestätigt. Jahre war ich schließlich diesem stumpfsinnigen, im wahrsten Sinne des Wortes gemeinen Menschen ausgeliefert. Seine

Weitere Kostenlose Bücher