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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Eurydike, Richard Wagner und Debussy. Da mein Freund neben dem Englischen, Französischen und Russischen auch das Italienische beherrschte, bat ich ihn, mir in dieser Sprache Unterricht zu erteilen, ich dachte, das wäre mir nützlich als Sänger. Ich hatte die Idee, Sänger zu werden, noch nicht aufgegeben, im Gegenteil, sie verfolgte ich jetzt mit der größten Intensität, nachdem ich wußte, daß eine ganze Reihe von zum Teil berühmten Sängern in ihrer Jugend lungenkrank gewesen waren, die Krankheit überwunden hatten und ihre Kunst ausgeübt haben jahrzehntelang. Eine große Kaverne hinderte einen Sänger nicht, Jahre später in Bayreuth den Wotan zu singen. So saßen wir beinahe täglich auf der Bank über der Frauenliegehalle beim Italienischunterricht. Zwischen den vorgeschriebenen Liegezeiten selbstverständlich, anstatt spazierenzugehen. Nach langer Zeit hatte ich wieder Freude, ich war fröhlich, ich hatte Gefallen an einem Menschen, der mir die abgerissenen Schnüre, die meine Existenz mit einer erfreulicheren Welt verbunden gehabt hatten, wieder zusammenknotete, wie lange hatte ich die Wörter
Harmonie, Dissonanz, Kontrapunkt, Romantik
etcetera, das Wort
schöpferisch
, das Wort
Musik
nicht mehr gehört, alle diese Begriffe und noch Tausende andere waren in mir abgestorben gewesen. Jetzt waren sie aufeinmal wieder die Bezugspunkte, die ganz einfach notwendig waren, um existieren zu können. Aber diese gehobenen Stimmungen änderten nichts an der Tatsache der gleichmäßig dumpfen Traurigkeit, die hier herrschte, von welcher nichts ausgeschlossen war, alles war diese dumpfe Trostlosigkeit, von früh bis spät, von der ersten bis zur letzten Stunde jeden Tages. Und alles hatte sich längst an diese dumpfe Trostlosigkeit gewöhnt. Einmal dachte ich, ich werde wieder draußen sein und mein Studium aufnehmen und Sänger werden, und ich sah mich eine eingeschlagene Laufbahn entwickeln in den bedeutendsten Konzertsälen, in den größten Opernhäusern der Welt, einmal dachte ich, ich werde nie mehr gesund werden, nie mehr hinauskommen, in Grafenhof gleich den vielen anderen aufgeben, absterben, ersticken. Einmal dachte ich, ich werde sehr bald aus Grafenhof entlassen und gesund sein, einmal, meine Krankheit wird sich nicht eindämmen lassen, sie wird sich, folgerichtig, zu jener entwickeln, die alle Hoffnung zunichte macht wie in den meisten meiner Mitpatienten. Mein Denken war kein Ausnahmedenken, mein Empfinden kein Ausnahmeempfinden. Wahrscheinlich ging in allen das Gleiche vor, bei dem einen stärker, bei dem anderen abgeschwächter, der eine machte sich größere Hoffnung, der andere eine weniger große, der eine würgte an der größten, der andere an der weniger großen Hoffnungslosigkeit. Wenn ich dann in die grauen, ja graublauen Gesichter der Todkranken schaute, zusah, wie sie sich nach und nach immer mehr in ihre heimlichen unheimlichen Winkel verkrochen, sie beobachtete, wie sie sich an den Wänden entlangtasteten, kaum mehr fähig, ihren total abgemagerten Körper aufrechtzuhalten, in ihren schlotternden Schlafröcken Platz nahmen im Speisesaal, mit geknickten Knien auf ihre Sessel sinkend und tatsächlich unfähig, die Kaffeekanne aufzuheben, um sich einzuschenken, wie sie die Kaffeekannen senken oder gleich stehenlassen mußten so lange, bis sie ihnen ein anderer aufhob und ihnen einschenkte, wenn ich sie auf ihrem Weg in die Kapelle beobachtete, Schritt für Schritt an der Wand mit aus ihren schwarzgewordenen Höhlen heraushängenden Augenkugeln, verging mir freilich mein Denken an eine eigene Zukunft, überhaupt an irgendeine Zukunft, dann mußte ich denken, daß ich gar keine Zukunft mehr hatte, selbst der Traum von einer solchen Zukunft war absurd, eine Schamlosigkeit. Wie viele hatten gleich mir nur einen sogenannten Schatten gehabt und dann doch plötzlich ein sogenanntes Infiltrat und dann ein Loch und waren erledigt.
Ich habe nur einen Schatten
berechtigte zu nichts, diese Tatsache war viel eher die freie Fahrt ins Verderben. Wie oft witzelte ich und sagte,
ich habe nur einen Schatten
, und die Ungeheuerlichkeit, ja Schamlosigkeit dieser Witzelei erschreckte mich, daß ich mich überhaupt getraute, in dieser Weise zu witzeln, dessen schämte ich mich noch während der Witzelei. Immer wenn ich vom Röntgen zurückgekommen war, erlaubte ich mir eine Spekulation mit der Zukunft: war mein Schatten verkleinert oder wenigstens gleichgeblieben, so hatte ich eine, war er vergrößert, hatte ich

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