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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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schwer fertigzuwerden war, die Ärzte ließen mich ihre Kälte, die Patienten ihre Verachtung spüren. Ich war das gebrannte Kind, das sich nicht mehr gedankenlos und nur aus Bequemlichkeitsgründen ein- und unterordnete. Ich hörte mir ihre Geschichten an, die nur Leidensgeschichten waren, wie alle Geschichten, wie die ganze Geschichte, ich teilte die Mahlzeiten mit ihnen, ich stand mit ihnen in einer Reihe vor dem Röntgenraum, ich drängte mich mit ihnen in die Ambulanz, ich saß mit ihnen am Mittagstisch, ich lag mit ihnen auf der Liegehalle, ich ereiferte mich mit ihnen gegen die Ärzte und die ganze Welt, und ich trug ihre Kleidung. Ich hatte die Insignien des Hauses in Händen, die Spuckflasche und die Fiebertafel. Nicht weil ich katholisch war, ging ich an den Sonntagen in die Kapelle, sondern weil ich nicht nur ein musikalischer Mensch, sondern ein Musiknarr geworden war, der noch immer die Absicht hatte, die Musik zu dem höchsten Zeichen seiner Existenzberechtigung und zu seiner einzigen wahren Leidenschaft, zu seinem Lebenskomplex zu machen. So sang ich an diesen Sonntagen, neben dem Harmonium stehend, das mein Kapellmeisterfreund spielte, eine Schubertmesse. An die zehn, zwölf Patienten als Sänger versammelten sich hier an den Sonntagen um sechs Uhr früh in ihren Schlafröcken, billigen, schäbigen Wollpullovern und sangen die Schubertmesse mit der Inbrunst des Dilettanten zum Ruhme und zur Ehre des Ewigen Gottes. Drei, vier Kreuzschwestern feuerten diese armseligen Stimmen aus abgemagerten, zitternden Kehlen an, trieben sie in das Kyrie hinein und so unnachgiebig und unerbittlich durch die ganze Messe bis zum Agnus, wo dann der Höhepunkt der Erschöpfung erreicht war. Wer hier sang, war bei den geistlichen Schwestern im Vorteil, er war früher als die übrigen im Besitze einer wärmeren Decke, er durfte sich ein besseres Leintuch oder sogar auch früher als alle anderen einen besseren Blick aus dem Fenster erwarten. Am Ende
Großer Gott wir loben dich
, immer mit der größtmöglichen Lautstärke, aus allen diesen krächzenden, angefressenen Kehlen. Da stand ich, mitsingend, mitschreiend, mitkrächzend, und hatte den Blick auf diese schwitzenden und wippenden Köpfe gerichtet, die von grauen, mageren Hälsen in die Höhe gereckt waren wie von Prangerstangen. Hinter mir hatte ich an der Wand die Partezettel der Toten, vor mir die lebendigen Sänger. Sie singen so lange, bis ihre Namen hinter mir an der Wand kleben, dachte ich. Dann kommen neue Sänger undsofort. Ich selbst wehrte mich gegen die Tatsache, daß mein Name einmal an dieser Wand klebte, schwarzumrandet. Ich werde hier nicht so lange singen, hatte ich gedacht. Schon bereute ich, mich für den Sängerdienst in der Kapelle gemeldet zu haben, ich wollte nicht mehr in die Messe, aber dazu war es jetzt schon zu spät, ich hätte die Folgen der Kreuzschwestern zu spüren bekommen, also sang ich weiter, jeden Sonntag, immer die gleiche Schubertmesse, bis ich sie nicht mehr hören konnte, mich ständig gegen den Gedanken wehrend, mein Name klebt hier an der Wand. Hatte ich nicht mit jenem am Vorsonntag noch das Agnus Dei gesungen, dessen Name jetzt schon hinter mir an der Wand klebte? Der
Pater Oeggl
, mit dem ich mich vor ein paar Tagen noch im Garten hinter dem Nebengebäude über das Funktionieren des Grammophons unterhalten hatte, er prangte jetzt an der Wand, fettgedruckt, zwei gekreuzte Palmwedel über seinem Namen. Du singst im Chor, bis du ausscheidest, eine Zeitlang klebt dein Name an der Wand, dann wird er, eines nicht fernen Tages, durch einen neuen ersetzt. Sie schrien
Großer Gott, wir loben dich
und lösten sich in ein geschmacklos bedrucktes Blatt Papier auf, sie hingen an einem Reißnagel. Am Ende der Messe war diese Kapellengesellschaft von einem ungeheuren, allgemeinen Hustenanfall erschüttert, aus welchem sich die Kreuzschwestern mit raschen Schritten entfernten. Die Sänger schlichen die Wände entlang zum Stiegenhaus und arbeiteten sich Hand vor Hand an den Geländern, Fuß vor Fuß über die Treppen in den Speisesaal, um das Frühstück einzunehmen. Der Kaffeegeruch beherrschte jetzt alles. Nach dem Frühstück, ausgerüstet mit Spuckflasche und Fiebertafel, zog die müde Kolonne die Gänge entlang auf die Liegehalle, um sich dort, schon in der Frühe völlig erschöpft, niederzulassen. Die Kälte kroch von unten herauf durch die Holzbretterritzen, sie schnitt von vorne direkt in die Gesichter. Verurteilt zur Untätigkeit,

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