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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Meiner Mutter, so war es beschlossen, wurde nicht die Wahrheit gesagt. In das Krankenhaus konnte ich zu Fuß gehen, es waren nur ein paar hundert Meter. Die Lungenabteilung war in mehreren Baracken untergebracht und war schon von weitem an dem faulen Geruch erkennbar, der diesen Baracken entströmte, hier lagen eine Reihe von Lungenkrebskranken bei offenen Fenstern und offenen Türen, ein entsetzlicher Gestank war in der Luft. Aber an diesen Gestank gewöhnte ich mich. Mir wurde ein
Pneu
, ein Pneumothorax, angelegt, und nach ein paar Tagen war ich wieder entlassen mit der Ankündigung, daß ich
unverzüglich
nach Grafenhof gehen müsse. Meine Abreise verzögerte sich, und ich mußte mehrere Wochen zuhause bleiben, in dieser Zeit hatte ich mir in bestimmten Abständen, etwa jede Woche, bei dem bekanntesten Lungenfacharzt der Stadt, in der Paris-Lodron-Straße, zweites Haus rechts, meinen Pneu füllen zu lassen. Der Patient legt sich auf das Ordinationsbett, und es wird ihm mit einem dünnen Schlauch Luft eingefüllt zwischen Zwerchfell und Lungenflügel, der kranke Lungenflügel, das Loch, wird auf diese Weise zusammengedrückt, damit es zuheile. Ich hatte diese Prozedur schon oft gesehen, sie ist nur am Anfang schmerzhaft, dann gewöhnt sich der Patient daran und empfindet sie als selbstverständlich, sie wird ihm zur Gewohnheit, er hat zwar immer Angst davor, aber am Ende der Prozedur stellt sich diese Angst als unbegründet heraus. Nicht immer als unbegründet, wie ich bald erfahren sollte. Eines Tages füllte mich dieser angesehene Arzt, der sogar ein Professor war, und ging mitten in der Füllung zum Telefon, während ich auf dem Ordinationsbett lag und den Schlauch in der Brust hatte. Er erkundigte sich bei seiner Köchin nach dem Mittagessen und äußerte seine Wünsche. Nach langem Hin und Her über Schnittlauch und Butter, Kartoffel oder nicht, beendete der Professor die Debatte und bequemte sich, zu seinem auf dem Ordinationsbett liegenden Patienten zurückzukehren. Er ließ mir noch eine Menge Luft ein und forderte mich dann, wie gewöhnlich, auf, hinter den Röntgenschirm zu treten, nur so konnte er feststellen, wie sich die Luft in mir verteilt hatte. Naturgemäß war es immer mühselig und absolut nicht schmerzfrei, aufzustehen, nur langsam ging das, und ich trat hinter den Röntgenschirm. Kaum hatte ich aber die erwünschte Aufstellung eingenommen, bekam ich einen Hustenanfall und wurde ohnmächtig. Ich hatte noch gehört, wie der Professor sagte,
mein Gott, ich habe einen zweiten Pneu angelegt
, dann fand ich mich auf einem in der Ecke stehenden Sofa wieder. Meine Ohnmacht konnte nicht lange gedauert haben, ich hörte, wie die Ordinationshilfe die Leute, die im Wartezimmer saßen, wegschickte. Nachdem alle Wartenden draußen waren, war ich mit dem Professor und seiner Gehilfin allein. Ich konnte mich nicht bewegen, ohne neuerlich in einen entsetzlichen Hustenanfall auszubrechen, andererseits hatte ich fast keine Luft bekommen. Ich fürchtete, sterben zu müssen, und ich dachte, daß es doch fürchterlich sei, gerade hier, in dieser düsteren, muffigen, in dieser entsetzlich altmodischen, kalten Ordination sterben zu müssen, ohne einen Menschen, der mir etwas bedeutete, unter den entsetzten Blikken und unter den grauenhaftesten Gesten meiner dilettantischen Peiniger. Nicht genug damit, hatte sich der Professor vor mich niedergekniet und mit gefalteten Händen gesagt:
Was soll ich mit Ihnen tun?
Es ist die Wahrheit. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich in diesem Zustand auf dem Sofa gelegen war. Jedenfalls hatte ich plötzlich wieder die Möglichkeit, aufzustehen und die Ordination zu verlassen, und ich lief, gegen den Widerstand des Arztes und seiner Gehilfin, die beide einen vollkommen hilflosen, gleichzeitig entsetzten Eindruck gemacht hatten, die drei Stockwerke des Arzthauses hinunter ins Freie. Eine spätere Rekonstruktion hat ergeben, daß ich unten auf der Straße sogar einen sogenannten Obus bestiegen hatte und nachhause gefahren war. Dort muß ich wieder in eine Bewußtlosigkeit gefallen sein, ich weiß es nicht, so berichteten es die Meinigen, die mich sofort in das Krankenhaus gebracht haben, in die Lungenbaracke zurück, die ich ein paar Wochen zuvor schon kennengelernt hatte und die mir also wohlbekannt war. Sofort war der Professor im Krankenhaus aufgetaucht und hatte mir klargemacht, daß
nichts Absonderliches
vorgefallen sei. Er sagte es nachdrücklich immer wieder, aufgeregt und mit

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