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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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gaben sich alle dem Stumpfsinn hin, ausgenommen mein Kapellmeisterfreund, der auf seinen angezogenen Beinen immer einen Klavierauszug liegen hatte, in welchem er eifrig Notizen machte, er arbeitete an seiner Karriere, er bereitete sich ununterbrochen auf die Freiheit vor, auf die Konzertsäle, die ihn aufnehmen würden, auf die Opernhäuser, manchmal sah ich ihn von der Seite her in der Dirigentenmanier den Takt schlagen, das belustigte mich. Seine Leidensgenossen beobachteten ihn mit Argwohn, die Ärzte machten taktlose Bemerkungen über ihn, wenn sie ihn auf der Liegehalle studieren sahen. Ich klammerte mich an das Bild, das mir mein Kapellmeisterfreund zeigte, die optimistische Haltung, die absolute Existenzbejahung, dieser Weg ist auch ein Weg für mich, hatte ich gedacht, hier habe ich ein Vorbild. Alle lagen hier stumpfsinnig und verloren, röchelten und spuckten, hatten die Lethargie angenommen, die in den Tod führt, mein Kapellmeisterfreund wehrte sich, handelte entgegengesetzt, ich eiferte ihm nach. Auch er spuckte, auch ich spuckte, aber wir spuckten weniger, und wir waren nicht positiv. Eines Tages war mein Kapellmeisterfreund entlassen worden, ich war wieder allein.
Gesund entlassen
, was für ein Wort! Was für eine Behauptung! Ich mußte meine Wege allein gehen, meine Sätze hatten keinen Widerpart mehr, ich redete, blieb aber ohne Antwort. Ich war an den Ausgangspunkt zurückgeworfen, der Faden, der mich mit Kunst, ja selbst mit Wissenschaft verbunden hatte, war abgerissen.
Gesund entlassen
, das kam beinahe niemals vor, aber jetzt hatte auch ich die Hoffnung, gesund entlassen zu werden. Dieser Mensch war mein Vorbild, der Wegstrebende, Existenzbesessene, der Künstler, der Weiterwollende! Tatsächlich verkleinerte sich mein Schatten, ja er war aufeinmal gar nicht mehr da. Der Assistent verkündete, ich sei geheilt, ich könne gehen,
hier
sei kein Platz mehr für mich. Ich hatte das große Los gezogen! War mir diese Ziehung aber auch recht gewesen? Ich kam zu keinem klaren Ergebnis. Ich verbrachte noch ein paar Tage in der Anstalt, ich stellte fest, ich war neun Monate hier gewesen. Ich hatte mich an Grafenhof gewöhnt. Was erwartet mich zuhause? Der Zustand meiner Mutter war unverändert, die Verzweiflung der Meinigen war noch größer. Ich hatte keine rechte Freude an meiner Heimkehr, ich konnte keine Freude haben,
natürlich nicht
. Ich war absolut unerwünscht, selbstverständlich. Der Todeskampf meiner Mutter näherte sich dem Höhepunkt, für mich war keine Zeit. Hatte ich den Familienzustand als katastrophal in Erinnerung, jetzt war alles noch schlimmer, alle waren vor dem Zusammenbruch. Die Sprache ist unbrauchbar, wenn es darum geht, die Wahrheit zu sagen, Mitteilung zu machen, sie läßt dem Schreibenden nur die Annäherung, immer nur die verzweifelte und dadurch auch nur zweifelhafte Annäherung an den Gegenstand, die Sprache gibt nur ein gefälschtes Authentisches wider, das erschreckend Verzerrte, sosehr sich der Schreibende auch bemüht, die Wörter drücken alles zu Boden und verrücken alles und machen die totale Wahrheit auf dem Papier zur Lüge. Wieder war ich in eine Hölle gereist, in umgekehrter Richtung. Der entlassene Tuberkulosekranke, auch wenn er gesund entlassen ist, ist verpflichtet, sich von dem für ihn zuständigen Amtsarzt untersuchen zu lassen, sein Sputum in ein Labor zu bringen, ich war zuerst mit meinem Sputum in das Labor gegangen. Wie ich meinen Befund abholte, sagte man mir, ich sei ansteckend, ich hätte eine
offene
Tuberkulose, ich müsse
augenblicklich
das Krankenhaus aufsuchen, daß ich sofort
zu isolieren
sei, sagten die Laborantinnen, ein Irrtum sei ausgeschlossen. Zwei Tage, nachdem ich aus Grafenhof
gesund entlassen
worden war, hatte ich jetzt die
offene Lungentuberkulose
, also das gefürchtete Loch, die Kaverne, vor welcher ich immer die größte Angst gehabt hatte. Ich ging nachhause, machte die Mitteilung, daß ich an
offener Tuberkulose
erkrankt sei und daß ich sofort in das Krankenhaus müsse. Meine Mitteilung hatte nicht die Wirkung haben können, die logisch gewesen wäre, ich konnte naturgemäß nur ein Problem am Rande sein, meine Mutter war die Kranke, nicht ich. Nach der Mahlzeit mit meiner Großmutter und mit meinem Vormund, die wir in dem Fluchtwinkel der Wohnung, in der Küche, eingenommen hatten, war sofort mein Besteck ausgekocht worden, und ich suchte, nur mit ein paar Notwendigkeiten unter dem Arm ausgestattet, das Krankenhaus auf.

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