Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
nicht schmerzhaft, alles voller Brutalität, aber nicht schmerzhaft, ich kann wieder atmen, ich hatte, weiß ich jetzt, eine Zeitlang mit dem Atmen ausgesetzt, ich bin wieder da, es geht aufwärts, ich bin gerettet.
Ruhig einatmen
, höre ich,
ganz ruhig einatmen
, dann wieder
ausatmen, Atem anhalten, ausatmen, einatmen, ausatmen
. Dann geht die Operation zuende. Die Schnallen an meinen Handgelenken werden aufgemacht, ich werde aufgehoben, vorsichtig, ganz langsam, ich höre wieder den Primarius mit seinem
ruhig, ganz ruhig
, meine Beine werden aus der Umklammerung befreit, und da hängen sie zu Boden, wie ich sehe, nur einen Augenblick sehe ich das, während ich von den zwei Schwestern aufgesetzt werde. An der offenen Wunde, die ich nicht sehen kann, hängen eine Menge Scheren auf meine Brust, der Entkeimungsapparat wird an mich herangeschoben. Dann werde ich wieder hingelegt, ein Tuch verdeckt mein Gesicht, so daß ich nichts sehen kann, die Wunde wird zugenäht. Auf dem Boden hatte ich literweise Blut, eine Menge blutgetränkter Gazefetzen und Watte gesehen. Was war passiert? Es
war
etwas passiert. Aber ich bin davongekommen, so mein Gedanke. Mir wird das Tuch vom Gesicht genommen, ich werde auf einen Wagen gelegt und in die Lungenbaracke zurückgefahren in einer Art Halbschlaf, ich konnte nur Schatten sehen, mir keine einzige Wahrnehmung deutlich machen. Die Operation ist vorbei, denke ich, ich liege in meinem Bett am Fenster, ich schlafe ein. Kurz nach dem Aufwachen erschien der Primarius, ein halber Tag war vergangen, es war die Mittagszeit, und sagte, es sei gutgegangen, nichts sei passiert, das
nichts
hatte er ausdrücklich betont, ich höre es heute noch, dieses
nichts
. Aber es
war
etwas geschehen, dachte ich, denke ich heute noch. Aber ich war davongekommen, ich hatte meine erste Operation überstanden, mein Phrenikus war gequetscht, das Pneumoperitoneum konnte eine Woche später angelegt werden, denn die Wunde war rasch geheilt, wider Erwarten, denn bis dahin hatte ich immer die Beobachtung gemacht, daß offene Wunden an meinem Körper nur langsam und nur unter den schwierigsten Umständen heilten. Nun würde mir mitten in den Bauch gestochen werden, zweifingerbreit über dem Nabel, und dieser Bauch würde soviel als möglich mit Luft angefüllt werden, damit meine Lungenflügel zusammengepreßt und mein Loch in der rechten unteren Lunge geschlossen werden konnte. Ich kann nicht sagen, ich wäre auf diese Tatsache gut vorbereitet gewesen, plötzlich hatte ich vor dem Pneumoperitoneum Angst. Ich ließ es mir von dem Oberarzt erklären, der mir das Pneumoperitoneum anlegen sollte, die Erklärung war so einfach wie die Erklärung des Aufpumpens eines Fahrradreifens, sie war auch in einem ganz gewöhnlichen, unpathetischen Tone gemacht worden, wie Oberärzte über Entsetzlichkeiten und Unheimlichkeiten reden, die für sie nur Alltäglichkeiten sind. Der Oberarzt hatte mir auch gesagt, daß es in ganz Österreich zu diesem Zeitpunkt nur ein paar solcher Pneumoperitoneen gebe, im übrigen habe er selbst erst drei angelegt, das habe ihm keinerlei Schwierigkeiten gemacht, es sei höchst einfach. Ich lag in meinem Fensterbett und beobachtete die Wunde an meinem Schlüsselbein, wie sie verhältnismäßig rasch zuheilte. Da sie nicht weit hatten, besuchten mich die Meinigen, auch meine Geschwister, und berichteten vom Todeskampf meiner Mutter, es wolle und wolle mit ihr nicht zuende gehen, sie wünschten ihren Tod, sie könnten ihr Leiden nicht mehr aushalten, meine Mutter selbst ersehne ihren Tod wie nichts. Ich grüßte meine Mutter, meine Mutter ließ mich grüßen, es war mir gar nicht zu Bewußtsein gekommen, in was für einer entsetzlichen Lage sich die Meinigen damals befanden, sie verließen meine sterbenskranke Mutter, um mich in der Lungenbaracke zu besuchen und umgekehrt. Daß sie sich dabei fast zugrunde gerichtet hatten, das konnte ich erst später in vollem Ausmaß erkennen. Für die Abwechslung in der Lungenbaracke hatten sie mir ein schweres Buch mitgebracht, unglücklicherweise
Die vierzig Tage des Musa Dagh
von Werfel, ich versuchte das Buch zu lesen, aber es langweilte mich, ich entdeckte mich dabei, daß ich mehrere Seiten gelesen hatte, ohne zu wissen, was, es hatte mich nicht im geringsten interessiert. Das Buch war mir auch zu schwer, ich war zu schwach gewesen, es zu halten. So verstaubte es auf meinem Nachtkästchen. Die meiste Zeit stumm und bewegungslos, betrachtete ich mit wachsendem
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