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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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haßte die Tauben, sie waren schmutzverklebt und verbreiteten einen süßlichen Geruch, und wenn sie aufflogen vor meinem Gesicht, wirbelten sie Staub auf, ich betrachtete sie als meine Todesboten. Auch mein Großvater hatte die Tauben gehaßt, er hatte sie als Krankheitsträger bezeichnet. Ich empfand die Tauben zeitlebens als häßlich, schwerfällig, plump ließen sie sich überall auf den Krankenbetten nieder und beschmutzten alles, wenn ich sie wegscheuchte, ekelte mich vor ihnen. Als ich schon aufstehen und ein paar Schritte gehen konnte, wagte ich einen Blick in das dem meinigen zunächstgelegene Krebskrankenzimmer und erschrak über die Tatsache, daß in dem Zimmer geraucht wurde. Die Todkranken, bis auf das Skelett Abgemagerten, stinkenden Verfaulenden hingen in ihren Betten und rauchten Zigaretten; wenn sich die Krankenfäulnis mit dem Zigarettenrauch mischt, entsteht einer der grausamsten Gerüche. Jetzt rauchen sie, in ein paar Tagen sind sie weg, hinausgeschoben, verscharrt, dachte ich. Wenn ich die Vinzentinerinnen sah, wie sie die gerade Gestorbenen auszogen und wuschen und wieder anzogen, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, dachte ich nach, wie hoch der Abstumpfungsgrad sein muß, um diese Arbeit verrichten zu können, oder wie groß die Selbstverleugnung und Selbstaufgabe. Ich hatte nicht den Mut, diese Heldinnen zu bewundern, ich fürchtete mich davor. Am Ende eines Lebens sammeln die Hinterbliebenen Hose und Rock und schmutzige Wäsche ein und legen sie über den Arm und gehen davon. Es war immer das gleiche Bild, aber es faszinierte mich wie das erste. Dieses Bild hatte mich immer abgestoßen und angezogen zugleich, die totale Intensität der Betrachtung überraschte mich immer von neuem. Ein Leben, so ungeheuerlich es angelegt war und so ungeheuerlich es sich entwickeln durfte oder mußte, es löste sich unter den Augen der Zurückgebliebenen in einen Haufen faules Fleisch auf, der noch von Haut und Knochen zusammengehalten ist. Das Leben, die Existenz haben diesen faulen Haufen Fleisches hingeworfen in einen Winkel, der der letzte Winkel für dieses Leben und für diese Existenz gewesen ist, und haben sich verflüchtigt. Wohin, ist die Frage. Ich werde mich hüten, mich auf sie einzulassen. Auf dem Rücken mit meinem Bauchpneu im Bett liegend, nicht nur von den Ärzten, auch von den Patienten als medizinische Außergewöhnlichkeit betrachtet, aufgedunsen und überhaupt unansehnlich, hatte ich jetzt Zeit, über alles das nachzudenken, was meine Gedanken in meinem Leben vernachlässigt hatten, wohinein zu denken ich mich bis jetzt auch nicht getraut hatte, in die Zusammenhänge meiner Erzeuger, in meine eigenen Zusammenhänge,
in den großen Zusammenhang
, aber, wie gesagt, ich vergrößerte durch meine Anstrengung nur das Dickicht, ich verfinsterte die Finsternis, ich verwüstete die Wüste. Ging ich die Wege meines Vaters zurück, war ich bald am Ende, ein paar Verzweigungen, ein paar vage Gestalten im tosenden Sturm oder in der absoluten Windstille der Geschichte, die auf mich zukamen und sich, sobald sie in meiner Nähe waren, auflösten in nichts. Was habe ich von
dort?
fragte ich mich, was habe ich von
da?
Woher habe ich
diese
Eigenschaft? woher
jene?
Meine Abgründe, meine Melancholie, meine Verzweiflung, meine Musikalität, meine Perversität, meine Roheit, meine sentimentalen Brüche? Woher habe ich einerseits die absolute Sicherheit, andererseits die entsetzliche Hilflosigkeit, die eindeutige Charakterschwäche? Mein Mißtrauen, jetzt geschärfter denn je, wo ist sein Grund? Ich weiß, daß mein Vater eines Tages beschlossen hatte, alles aufzugeben, sich für immer und endgültig aus allem zu befreien und zu entfernen, das ihm Heimat gewesen war, aufgepfropft wie mir wahrscheinlich, eingeredet, diese Heimat, als eiserne Kappe auf seinen Kopf gesetzt, damit sie ihn erdrücke, daß er den Entschluß gefaßt hatte, alles aufzugeben, und diesen Entschluß konsequent durchführte. Er legte Feuer an sein Elternhaus und verließ es mit nichts als mit dem, das er am Leib hatte, in Richtung Bahnstation. Es heißt, er habe sich ausgerechnet, wie er das Feuer zu legen habe, damit er das Feuer gerade auf seinem Höhepunkt zu sehen bekomme, nämlich in den Minuten, in welchen ihn der fahrende Zug aus seiner Heimat entfernte, die Präzision war ihm, wie ich weiß, geglückt, er durfte sich daran weiden, daß das von ihm angezündete Elternhaus, sein Eigentum, in Flammen aufging. Mit diesem

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