Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
geht, sollen die Todkranken zuhause sein, zuhause sterben, nur nicht in einem Krankenhaus, nur nicht unter ihresgleichen, es gibt keine größere Fürchterlichkeit. Ich werde meinem Vormund niemals vergessen, daß er, in Gemeinschaft mit meiner Großmutter, meine Mutter bis zu ihrem Tode zuhause gepflegt hat. Die Baracken waren im Krieg gebaut, längst in dem Zustand der absoluten Verwahrlosung, nichts an ihnen war mehr erneuert worden, für die Lungenkranken, für die Ausgestoßenen mit ihrem tödlichen Auswurf, waren sie, so schien es, gerade recht, sie waren gefürchtet, niemand betrat sie freiwillig, ein Zaun riegelte den Weg vom allgemeinen Krankenhaus zur Lungenabteilung ab, wieder überall die Aufschrift:
Zutritt verboten!
, der Platz für die Baracken war gut gewählt, sie lagen abseits, im Hintergrund der ganzen Krankenhausanlage. Durch die offenen Fenster war von ferne der Straßenverkehr zu hören. Keine fünfzig Meter von meiner Baracke führte die Straße vorbei, auf welcher ich noch ein Jahr vorher zum Podlaha in die Scherzhauserfeldsiedlung gegangen war, meine Lehrlingsstraße. Damals hatte ich die hinter dem Gestrüpp an der Straße versteckten Baracken gar nicht wahrgenommen, sie waren mir niemals aufgefallen, dieses Straßenstück war ich auch immer sehr schnell entlanggelaufen, um nicht zu spät ins Geschäft zu kommen. Ich sehnte mich nach dem Geschäft, nach dem Podlaha, nach der Scherzhauserfeldsiedlung und ihren Bewohnern, sie alle wußten nichts von meiner Entwicklung. Den Podlaha hatte ich nur kurz von meiner bestandenen Kaufmannsgehilfenprüfung verständigt, auf einer Postkarte, mit
herzliche Grüße
. Ich hatte ihn nicht mehr gesehen. Er hatte mich sicher abgeschrieben, einen Lungenkranken konnte er nicht mehr brauchen, ich hätte seine Kundschaft vertrieben und ihn außerdem mit dem Gesetz in Konflikt gebracht. Was hatte mein Ausbrechen aus dem Gymnasium, was hatten meine Widerstände gegen Familie und Schule und gegen alles, das mit Familie und Schule zusammenhing, genützt, meine Abneigung gegen die normale, blind sich in den Stumpfsinn fügende Gesellschaft? Was hatte ich von der Kehrtwendung in der Reichenhaller Straße? Ich war um alles zurückgeworfen, als ob sich die ganze Welt gegen mich verschworen gehabt hätte, gegen uns alle, die wir nach dem Kriege geglaubt hatten, uns in der Kleinbürgerlichkeit der Radetzkystraße verstecken zu können. Mein Ausbrechen aus dem Gymnasium, meine Lehrstelle, mein Musikstudium, ich sah diese Zeichen meines Ungehorsams langsam zur Verrücktheit und zum grotesken Größenwahnsinn gesteigert. Den Jago hatte ich singen wollen und lag jetzt mit einem Bauchpneu in der Lungenbaracke mit meinen achtzehn Jahren, es konnte nur eine Verhöhnung meiner Person sein. Aber schließlich und endlich war ich doch dem Schicksal des Radrennfahrers entgangen. Und ich hatte keinen Lungenkrebs wie die, nur zehn Schritte von mir entfernt, die in der Nacht manchmal aufschrien aus ihrem
ungeheuren
Schmerz jenseits der Schmerz-Begriffe und die mir die Luft verpesteten mit ihrem Gestank, ich hatte einen enormen Vorteil, ich war noch kein Todeskandidat, ich mußte mich nicht als hoffnungslos und erledigt bezeichnen. So grübelte ich tagelang, wochenlang und erschrak über die Verwandlung meines Körpers, der Bauchpneu hatte ihn total, aufs äußerste empfindlich, unansehnlich gemacht, wenn ich mich abtastete, fühlte ich immer nur die Luft unter der Haut, ich war nurmehr noch ein einziges Luftpolster, ein mir unbekannter Ausschlag hatte sich auf meinem ganzen Körper gebildet, von welchem die Ärzte völlig unbeeindruckt blieben, von der rötlich-grauen Folgeerscheinung der Medikamente, die ich jetzt schon so lange Zeit in mich aufnehmen mußte. Ich war ohne Unterbrechung mit Streptomyzin weiterbehandelt worden, jetzt mit einer entsprechenden Menge, das Landeskrankenhaus konnte sich das leisten, und es gab hier nur den Grund der Notwendigkeit, nicht die üble Bevorzugung wie in Grafenhof, das sogenannte PAS hatte ich zu schlucken, wöchentlich Hunderte von weißgelben Tabletten, die mir in Kilodosen ans Bett gestellt wurden. Sie bewirkten eine beinahe vollkommene Appetitlosigkeit. Und ich weiß nicht mehr, was sonst mir noch alles eingegeben und gespritzt worden ist in diesen Wochen und Monaten. Manchmal erwachte ich mitten am Tage, wenn ich aus Erschöpfung eingenickt war, erschreckt von großen, fetten Tauben, die sich auf meiner Bettdecke niedergelassen hatten; ich
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