Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
hatte. Da mein Eingriff ein paar Tage verschoben worden war, hatte ich Zeit, das Krankenhausareal zu durchforschen, ich war ja schon wochenlang in diesem Krankenhaus gewesen, ohne daß ich mich in ihm auskannte, bettlägerig in der immer gleichen Umgebung des großen Internenzimmers, hatte ich außer Teilen dieser Abteilung nichts gesehen, jetzt nahm ich das ganze Krankenhaus in Augenschein. Es war klar, daß ich jene Abteilung aufsuchte, in welcher mein Großvater gelegen und im Feber verstorben war. Ich betrat den Chirurgietrakt des Primarius mit größter Abscheu gegen die medizinische Kunst und voll Haß gegen alle Ärzte. Hier, auf diesem finsteren, engen Gang war der Primarius eines Tages auf meine Großmutter zugegangen und hatte ihr das Geständnis gemacht, daß er sich geirrt habe, der
Tumor im Bauch
war in Wirklichkeit die zum Platzen gefüllte verstopfte Blase gewesen, die meinen Großvater tödlich vergiftet hatte. Ich verließ den Chirurgietrakt und ging in die Frauenabteilung, in die sogenannte Gynäkologie, wo meiner Mutter die Gebärmutter herausoperiert worden war, um ein Jahr zu spät. Ich war zu deprimiert, um mich in weitere Erforschungen dieser verkommenen medizinischen Festung einzulassen, und ich legte mich in mein Bett und wartete nur noch schlafend und wenig Nahrung zu mir nehmend den Zeitpunkt ab, der für meine Phrenikusquetschung bestimmt gewesen war. Ich war bis zu diesem Eingriff zwar schon sehr oft von den Ärzten gequält, aber noch niemals
operiert
worden, ich betrachtete die Vorgänge um mich herum jetzt mit gesteigerter Feierlichkeit, nachdem man mir in aller Frühe die sogenannte Beruhigungsspritze, im Volksmund
Wurstigkeitsspritze
, verabreicht hatte, wie ich aus dem Bett gehoben und auf den Wagen gelegt und aus der Baracke hinaus und in den Chirurgietrakt gefahren wurde. Die Spritze bewirkt, daß der Betäubte in Sekundenschnelle vom angstbesessenen Opfer zum interessierten Beobachter eines sehr ruhig ablaufenden Schauspiels wird, in welchem er, wie er zu meinen glaubt, die Hauptrolle spielt. Alles wird leicht und angenehm, und alles geschieht in dem größten Vertrauen und
Selbst
vertrauen, die Geräusche sind Musik, die Wörter, die der Betäubte hört, sind beruhigend, alles ist komplikationslos und gnädig. Die Angst ist ausgeschaltet, jedes Zurwehrsetzen, der Betäubte hat die äußerste Reserve mit der äußersten Gleichgültigkeit vertauscht. Der Operationssaal erweckt nurmehr noch ein gesteigertes Interesse an dem, was hier von Ärzten und Schwestern getan wird, er genießt das vollste Vertrauen. Unendliche Ruhe und Sanftmut herrschen, alles, selbst das Allernächste, ist in die größte Ferne gerückt. Das Opfer, das schon auf dem Operationstisch liegt, nimmt alles mit der größten Gelassenheit wahr, ja, es fühlt sich wohl, es versucht, in die Gesichter über ihm zu schauen, aber diese Gesichter verschwimmen, Stimmen hört der auf dem Operationstisch Liegende, Instrumentengeklirr, Wasser rauscht. Nun bin ich angeschnallt, denke ich. Der Operateur gibt seine Befehle. Zwei Schwestern, so vermute ich, halten, neben mir stehend, meine Hände, um meinen Puls zu fühlen. Der Primar sagt einmal
atmen
, dann wieder
nicht atmen
, dann wieder
atmen
, dann wieder
nicht atmen
, ich kann seinen Befehlen folgen, ich weiß, jetzt hat er hineingeschnitten, jetzt nimmt er das Fleisch auseinander, die Arterien werden auseinandergeklemmt, er kratzt am Schlüsselbein, schneidet noch tiefer, immer tiefer und tiefer, er will das und jenes, er wirft das eine weg, es wird ihm etwas anderes gegeben, es herrscht weiterhin diese unendliche Ruhe wie am Anfang, wieder höre ich
einatmen, nicht atmen, einatmen
, ich höre
die Luft anhalten, langsam ausatmen, wieder normal atmen, Luft anhalten, ausatmen, einatmen, die Luft anhalten, wieder normal atmen
. Ich höre nur den Primar, nichts von den Schwestern, dann wieder
einatmen, ausatmen, die Luft anhalten, ausatmen, einatmen
, ich habe mich an diese Befehle gewöhnt, ich will sie korrekt ausführen, es gelingt mir. Plötzlich werde ich schwach, noch schwächer, urplötzlich ist es, als ob mein Blut aus meinem Körper herausrinne vollständig, im gleichen Augenblick lassen die Schwestern meine Handgelenke los, und meine Arme fallen, und ich höre, wie der Primarius
Jesus Maria!
sagt, Instrumente fallen zu Boden, Apparaturen rasseln. Jetzt sterbe ich, denke ich, es ist aus. Dann fühle ich wieder ein Zerren und Zurren an meiner Schulter, alles dumpf,
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