Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Interesse die Zimmerdecke und machte mir meine Phantasie zunutze. Am Ende wird wieder Grafenhof stehen, dachte ich, aber jetzt kehre ich dort unter gänzlich anderen Voraussetzungen wieder, als
tatsächlich Lungenkranker, Positiver, Dazugehöriger
. Ich versuchte mir meine Situation klarzumachen. Ein Pneumoperitoneum hatten sie in Grafenhof noch nie gehabt, das wußte ich, ich werde in die Heilstätte mit einer Spezialität zurückkehren, mit einer Sensation. Mein zweites Auftreten in Grafenhof wird auf jeden Fall gänzlich anders sein als mein erstes. Ich stellte mir meine Wiederkehr in Grafenhof vor, was sie für Augen machen und wie sie auf mich reagieren würden, Patienten wie Ärzte. Sie hatten sich getäuscht und dadurch mich getäuscht und hatten mich als Gesunden entlassen, während ich todkrank gewesen war. Wie werden sie mir in die Augen schauen, was werden sie sagen? Ich fragte mich, wie verhalte ich mich? Ich werde es darauf ankommen lassen. Hatten nicht alle Ärzte an mir versagt? Ich war ihnen ausgeliefert. Sie sahen immer etwas, aber es war nicht das Richtige. Sie sahen etwas, das es gar nicht gab. Sie sahen nichts, obwohl etwas da war, und umgekehrt. Wenn mich die Meinigen besuchten, hatten sie während der ganzen Zeit ihre Taschentücher vor Nase und Mund, und es war schwer, sich unter diesen Umständen mit ihnen zu unterhalten. Worin bestand diese Unterhaltung?
Wie geht es dir?
fragten sie.
Wie geht es der Mutter?
fragte ich. Der Großvater in seinem frischen Grab auf dem Maxglaner Friedhof, dem die katholische Kirche zuerst kein Grab zur Verfügung stellen hatte wollen und der dann in einem Ehrengrab der Stadt beigesetzt war, durfte nicht erwähnt werden, das getrauten wir uns nicht, den Tod ansprechen, das Endgültige, das Ende. An einem grau-schwülen Morgen ging ich in den Chirurgietrakt hinüber, wo mich der Oberarzt erwartete. Er war schwer, breit, hatte große Hände. Er war allein, ohne Hilfe. Ich hatte mich niederzulegen auf den Rücken und abzuwarten. Der Oberarzt pinselte meinen Bauch oberhalb des Nabels ein, und dann warf er sich ohne Ankündigung mit seinem ganzen Körpergewicht auf mich, damit hatte er blitzschnell und mit einem Male meine Bauchdecke durchstoßen. Er sah mich befriedigt an, murmelte das Wort
gelungen
, und ich hörte, wie die Luft in meinen Körper einströmte, so lange, bis keine mehr Platz hatte. Natürlich hatte ich nach Beendigung der Prozedur nicht aufstehen können, ich wurde auf einen Wagen gelegt und von einer Schwester in die Lungenbaracke zurückgefahren. Unter dem Datum der Anlegung meines Pneumoperitoneums stand
Pneumoper!
, ich hatte auch das hinter mir. Ein Pneumoperitoneum zu haben, war etwas Außerordentliches, etwas ganz und gar Besonderes, und ich fühlte mich auch so, wer es wissen wollte, dem erklärte ich, was ein Pneumoperitoneum ist und wie man es anlegt und welche Vorbereitungen dafür notwendig sind. Auch über die Wirkung wußte ich Bescheid, auch die Gefahren waren mir bekannt. Nach der Füllung drängte und zwängte sich die eingefüllte Luft überall in meinen Körper hinein, wo sie konnte, sie stieg mir unter der Haut bis in den Hals und unter das Kinn, ich glaubte, krepieren zu müssen, ich fühlte mich hintergangen, als Versuchsobjekt, an dem ein neuerlicher Betrug begangen wurde. Starr und stumm empfing ich die Meinigen und konnte nicht sprechen. Sie verließen mich deprimierter, als sie gekommen waren. Ich hatte mir ihren Bericht über den Zustand meiner Mutter angehört, ich hatte darauf nicht reagiert, sie hatten sich umgedreht und waren gegangen. Ungefähr alle vierzehn Tage wurde meine Bauchdecke durchstoßen, regelmäßig, nach genauen Luftmengenberechnungen wurde ich gefüllt, immer in derselben unangenehmen Weise, indem ich zwar zu Fuß zur Füllung hatte gehen können, aber mit dem Wagen zurückgebracht werden mußte. Bei diesen Rückfahrten durch die Gänge der Lungenbaracke hatte ich mich aber jedesmal glücklich geschätzt,
nur
ein Pneumoperitoneum zu haben,
nur
ein Loch in der Lunge,
nur
eine ansteckende Tuberkulose, keinen Lungenkrebs wie die in den offenen Zimmern Liegenden, die ich im Vorbeifahren sehen hatte können, ganz leise jammerten sie in ihren Betten dahin, waren sie erlöst, wurden sie in den berühmtberüchtigten Zinksärgen an uns vorbeigefahren, ein tagtäglicher Anblick. In solcher Umgebung sollte meine Mutter nicht sterben, hatte ich gedacht, und ich schätzte mich glücklich, daß sie zuhause war. Wenn es
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