Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
Sicherheit noch andere solche Dämonen. Diese durfte ich aber nicht in dieser Anstaltsbibliothek suchen, die vollgestopft gewesen war mit Geschmacklosigkeit und Stumpfsinn, mit Katholizismus und Nationalsozialismus. Wie komme ich aber an weitere Dämonen heran? Ich hatte keine Möglichkeit, außer jener, Grafenhof so bald als möglich zu verlassen und mir in Freiheit meine Dämonen zu suchen. Jetzt hatte ich noch einen neuen Antrieb hinauszukommen dazu. Wenn ich hinter den Röntgenschirm trat, wollte ich auch schon hören, daß sich mein Zustand verbessert hat, und tatsächlich verbesserte sich mein Zustand von einer Untersuchung zur andern. Ich machte jetzt schon Ausflüge über das Dorf hinaus, ich lernte die Umgebung kennen, was mir immer so finster und abstoßend erschienen war, war es aufeinmal nicht mehr in so betäubender und vernichtender Weise, die Berge, die mir immer als häßlich erschienen waren, als bedrohlich, waren es nicht mehr. Die Menschen, die mir immer als Ungeheuer vorgekommen waren, waren es nicht mehr. Ich hatte die Möglichkeit, tiefer und noch tiefer und immer noch tiefer einzuatmen. Ich bestellte mir, obwohl das beinahe mein ganzes Fürsorgegeld verschlungen hatte, einmal in der Woche die T IMES , um meine Englischkenntnisse aufzufrischen, zu erneuern, zu erweitern und um gleichzeitig die Vorgänge in der mit rasender Geschwindigkeit sich verändernden Welt verfolgen zu können. Ich getraute mich aufeinmal, die Organistin im Dorf anzusprechen, und ich vereinbarte mit ihr eine Gesangstunde in der Kirche, und nachdem sie mich nicht nur eine einzige, sondern drei Stunden auf der Orgel begleitet hatte, ich hatte Bach-Kantaten vom Blatt gesungen, das Liederbuch der Anna Magdalena undsofort, war es ihr Wunsch gewesen, daß ich die darauffolgende Woche das Baßsolo in der vormittägigen Sonntagsmesse (von Haydn) singe. Mein prallgefüllter Bauchpneu, mein existenznotwendiges Pneumoperitoneum hatte mich nicht gehindert, nach diesem Solo regelmäßig in den Messen die Baßpartien zu singen; unter der Woche hatte ich mich naturgemäß immer nur heimlich und also hinter dem Rücken der Ärzte mit der Organistin in der Kirche zum gemeinsamen Musizieren getroffen, wir studierten die großen Oratorien von Bach, von Händel, ich entdeckte den Henry Purcell, ich sang den Raphael in Haydns Schöpfung. Ich hatte meine Stimme nicht verloren, im Gegenteil, von Woche zu Woche verbesserte sich mein Instrument, ja ich perfektionierte es, und ich war unersättlich und unerbittlich in meinem Verlangen nach diesen Musikstunden in der Kirche. Jetzt war ich wiederum auf dem richtigen Weg gegen alle Warnungen: Die Musik war meine Bestimmung! Die Entdeckung meiner heimlichen Kirchgänge in das Dorf, mein Gesang in der Kirche, noch dazu in aller Öffentlichkeit, rücksichtslos, unbekümmert, waren aber nicht länger geheimzuhalten gewesen, ich selbst hatte diesen meinen
vollkommenen Wahnsinn
verraten müssen. Die Ärzte hatten mich zur Rede gestellt, mir klarzumachen versucht, daß dieses Singen mit meinem Pneumoperitoneum auch meinen plötzlichen Tod bedeuten könnte, und sie drohten mir mit Entlassung. Das strikte Verbot meiner Dorfbesuche war ausgesprochen. Ich hatte aber nicht mehr die Kraft, mich einem Verbot, gleich welchem, zu unterwerfen, ich hätte ohne die praktische Ausübung der Musik nicht mehr existieren können, so wollte ich aus Grafenhof weg, so bald als möglich und
unter allen Umständen
. Wochenlanges Singen hatte mich ja nicht geschwächt, im Gegenteil, es hatte meinen Allgemeinzustand so gebessert, daß ich schon glauben durfte, auf diesem musikalischen Wege gesund zu werden, die Ärzte hielten das für absurd, sie bezeichneten mich als verrückt. Die praktische Ausübung der Musik war aufeinmal mein Lebenstraining. Ich getraute mich aber nicht mehr ins Dorf, jedenfalls nicht mehr zu dem praktischen musikalischen Zweck, ich besprach mein Mißgeschick mit meiner Organistin, Wienerin, Künstlerin, Absolventin der Musikakademie, Professorin, im Krieg nach Grafenhof und dadurch erst recht in die Lungenkrankheit gekommen und im Dorf hängengeblieben. Sie war mir fortan die liebste Gesprächspartnerin, meine neue Lehrerin, mein einziger Halt. Wann ich nur konnte, suchte ich sie auf. Aber wir getrauten uns nicht mehr zu musizieren, wir hatten selbst Angst bekommen vor unserer eigenen Courage, vor unserem
Todesmut
. So wurde, unter der Ärztedrohung, aus der praktischen die theoretische Musik unser
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