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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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Heukareck bis zu den schneebedeckten Dreitausendern im Westen. Diese Perspektive des Hauses war mir bis jetzt nicht bekannt gewesen. Mein Allgemeinzustand verbesserte sich von dem Augenblick an, in welchem ich in den zweiten Stock verlegt worden war, wie wenn ich aus einer Totenkammer gestiegen wäre. Was hatte diese Verlegung veranlaßt? Ich fragte, aber ich erhielt keine Antwort. Jetzt hatte ich wieder auf die Liegehalle zu gehen, das mußten die Loggiapatienten nicht, ich hatte eine größere Bewegungsfreiheit, ich sah wieder andere Menschen als mich selbst, denn solange ich in der Loggia gewesen war, hatte ich nur mich selbst gesehen, mich nur mit mir selbst beschäftigt, auch wenn ich mich mit dem Doktor beschäftigt hatte, beschäftigte ich mich im Grunde doch nur mit mir selbst. Jetzt beschäftigte ich mich wieder mit anderen, mit mehreren anderen, mit vielen anderen. Ich war in einer Aufwärtsentwicklung, zweifellos. Genau wie ich sie in Erinnerung hatte, lagen sie da, apathisch, lebensüberdrüssig, aneinandergereiht, und kamen ihrer obersten Verpflichtung nach, indem sie in ihre Spuckflasche spuckten. Nicht das drittletzte, das dritterste Liegebett hatte ich jetzt. Von hier aus konnte ich in das Dorf hinunterschauen, ich hatte die feste Absicht, die Hausordnung
täglich
zu hintergehen, das Dorf
täglich
aufzusuchen in aller Heimlichkeit und Geschicklichkeit, ich mußte die Grafenhofener Gesetze brechen, um meinen Zustand zu verbessern. Aufeinmal wollte ich nicht nur meinen Zustand verbessern, ich stellte den höchsten Anspruch: ich wollte gesund werden. Diesen Entschluß behielt ich bei mir, ich hütete ihn als mein strengstes Geheimnis. Ich wußte, daß hier nur der Absterbensdrang, die Todesbereitschaft, die Todessüchtigkeit herrschten, also mußte ich meine neuerwachte Lebensbereitschaft, meine Lebenssucht, geheimhalten, ich durfte mich nicht verraten. So täuschte ich meine Mitwelt, indem ich nach außen hin in ihren Trauer-, in ihren Absterbenschor einstimmte und doch in meinem Herzen und in meiner Seele mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln dagegen gewesen war. Ich mußte mich mit diesem Betrug abfinden, um mein Geheimnis hüten zu können. Ich existierte fortan in dem Zustand der Lüge und des Theaters. Ich mußte schauen, hier herauszukommen, und zwar bald. Dazu mußte ich aber die Kraft haben, die Gesetze, die hier herrschten, und zwar absolut herrschten, zu brechen, und nach meinen eigenen Gesetzen leben, immer mehr nach meinen eigenen, immer weniger nach den mir aufgezwungenen. Dem Rat der Ärzte folgen nur bis zu einem bestimmten, nützlichen Grade, nicht weiter, jedem Rat nur, soweit er mir nützlich sein konnte, und nur, wenn ich ihn überprüft hatte. Ich mußte mich wieder selbst in die Hand und vor allem in den Kopf nehmen und radikal ausschalten, was mir schadete. Das Schädliche war das Ärztliche, das in der Anstalt herrschende System, alles Übel geht von den Medizinern aus, hatte ich gedacht, ich mußte für mich so denken, und es war wieder Zeit, nur an mich zu denken, wollte ich vorwärtskommen. Einerseits war der Aufenthalt in Grafenhof notwendig, unumgänglich, der medizinische und der klinische Apparat waren die Voraussetzung für Genesungsfortschritte, ich mußte diesen medizinischen und klinischen Apparat gebrauchen, ich durfte mich von ihm aber nicht mißbrauchen lassen. Ich forderte von mir die höchste Aufmerksamkeit, vor allem eine noch verschärftere Arztkontrolle. Oberflächlich fügte ich mich der Hausordnung, der medizinischen Gewalt, unter dieser Oberfläche bekämpfte ich sie da, wo sie zu bekämpfen war, zu meinem Vorteil. Dazu fehlte es mir nicht an der Erfahrung, nicht an Behutsamkeit, nicht an der Wissenschaft.
Ich
hatte die Ärzte und ihre Handlanger zu lenken, nicht umgekehrt, das war nicht einfach. So hatte ich mich ganz von selbst außerhalb der in Grafenhof herrschenden Gesetze gestellt. Jede freie Minute verwendete ich auf die verstärkte Wachsamkeit gegenüber dem Heilapparat, der, ist die Wachsamkeit außer acht gelassen oder läßt sie auch nur um weniges nach, doch nur ein Unheilsapparat sein konnte. Für die meisten in Grafenhof war dieser Heilapparat ein Unheilsapparat, weil einerseits ihre Unwissenheit, andererseits ihre Lethargie zu groß waren. Ich hatte bald alles unter Kontrolle, gleich, ob es sich um die immer wiederkehrenden Untersuchungen handelte oder um die Beurteilung derer, die diese Untersuchungen durchführten. Es entging mir

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