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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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sich die Haare jahrelang wachsen lassen und war es überhaupt nicht mehr gewohnt, mit jemandem zu sprechen. Er freute sich aber über meinen Besuch, murmelte unverständliche Wörter. Er machte eine Flasche Traminer auf, die wir austranken, die meiste Zeit schweigend. Immer wieder meinte er, er habe meinen Großvater ganz deutlich vor sich, liebe ihn noch heute, verehre ihn wie keinen anderen Menschen. Mit seiner Einfachheit in seiner Verkommenheit beschämte er mich. Ich redete über mich, aber es war ihm unverständlich. Alles, was ich sagte, war überflüssiges Geschwätz. Andererseits, habe ich gedacht,
du
hast einen klaren Kopf, wenn du auch sonst ein körperlicher Krüppel bist,
er
ist ein dumpfes, stumpfgewordenes Wrack, in welchem es die Seele nicht mehr lange aushalten wird. Sie flackerte nur noch hie und da auf, in seinen Augen. Es war eine gespenstische Szene, auf die ich aber auf keinen Fall verzichten will. Die meterlangen Spinnweben beherrschten das Haus, der Modergeruch legte sich um jedes Wort, um jede Empfindung. Sein Vater hatte sich erhängt, nachdem er in München mit einer Elektrofirma Konkurs gemacht hatte, das vernichtete das Leben des Sohnes. Die Großeltern starben, das Haus und sein Besitz verrotteten. Ich hatte meinen Augen nicht getraut: um das ehemals gepflegte Haus waren an die hundert Autowracks hingeworfen und ihrem Schicksal überlassen. Zwei Männer, deren Bärte ihre Gesichter überwuchert hatten und die in vor Schmutz steifen Overalls steckten, deuteten sich beinahe gleichzeitig mit dem Zeigefinger auf die Schläfe, als ich nach dem Schorschi fragte. Zwei Jahre habe er den ersten Stock nicht mehr verlassen. Sie versorgten ihn mit Lebensmitteln, dürften aber nicht zu ihm hinauf. Er besitze das Haus noch, obwohl er längst entmündigt gehörte. Sie warnten mich. Ich ging aber doch hinein und getraute mich in den ersten Stock. Ein Unmensch machte die Tür auf, Schmutz und Haare, aus welchen aber doch die Augen meines geliebten Schorschi leuchteten. Er erkannte mich nicht sofort, ich mußte dreimal Thomas sagen, bis er begriff. Dann durfte ich eintreten. Genauso schaut ein Mensch aus, der vollkommen und konsequent aufgegeben, aber sich noch immer nicht umgebracht hat, dachte ich. Sein Vater hat sich umgebracht, dachte ich, er nicht, wahrscheinlich ist der Selbstmord seines Vaters genau der Grund, warum er selbst sich bis jetzt nicht umgebracht hat. Durch meine Spekulation blickte ich durch den Unmenschen Schorschi auf unsere gemeinsame Kindheit. Sie war noch immer da, sie lebte. Ich schaute also durch das Schlafzimmerfenster meines Freundes, der einen festen Schlaf schlief, denn er war immer ausgenützt und dadurch immer übermüdet, wie alle Bauernkinder. Klopfe ich oder klopfe ich nicht? Ich klopfte. Der Schorschi kam ans Fenster und machte mir auf. Ich sehe diese Szene deutlich. Er sperrte die Haustür auf, und ich setzte mich mit ihm in sein kaltes Zimmer und erzählte ihm meine Geschichte. Sie hatte die erwartete großartige Wirkung auf ihn.
Fast bis Salzburg
, sagte ich,
beinahe
, ich hätte schon die Lichter von Salzburg gesehen, nur ich wußte die Adresse der Tante Fanny nicht. Alles, was ich sagte, bewunderte er, und mit jeder neuen Wendung in meinem Bericht war seine Bewunderung eine noch größere. Natürlich, er war noch nie auf einem Steyr-Waffenrad gesessen. Was für ein Hochgefühl, es selbst in Bewegung zu setzen und auf und davon zu fahren. Ich selbst genoß meinen Bericht so, als würde er von einem ganz andern erzählt, und ich steigerte mich von Wort zu Wort und gab dem Ganzen, von meiner Leidenschaft über das Berichtete selbst angefeuert, eine Reihe von Akzenten, die entweder den ganzen Bericht würzende Übertreibungen oder sogar zusätzliche Erfindungen waren, um nicht sagen zu müssen: Lügen. Ich hatte, auf dem Schemel neben dem Fenster sitzend, den Schorschi auf seinem Bett gegenüber, einen durch und durch dramatischen Bericht gegeben, von dem ich überzeugt war, daß man ihn als ein wohlgelungenes Kunstwerk auffassen mußte, obwohl kein Zweifel darüber bestehen konnte, daß es sich um wahre Begebenheiten und Tatsachen handelte. Wo es mir günstig erschien, hielt ich mich länger auf, verstärkte das eine, schwächte das andere ab, immer darauf bedacht, dem Höhepunkt der ganzen Geschichte zuzustreben, keine Pointe vorwegzunehmen und im übrigen mich als den Mittelpunkt meines dramatischen Gedichts niemals außer acht zu lassen. Ich wußte, was dem

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