Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
Vom Netzwerk:
Revolutionäre, er lebte auf im Widerspruch, er existierte ganz aus dem Gegensatz, meine Mutter suchte, um sich behaupten zu können, Halt in der Normalität. Eine sogenannte glückliche, also harmonische Familie war zeitlebens ihr Wunschziel gewesen. Sie litt unter den Gehirnund Geisteseskapaden ihres Vaters, unter welchen sie ständig unterzugehen drohte. Sie verehrte ihren Vater zutiefst, solange sie lebte, aber ebenso gern hätte sie sich den für sie so chaotischen und zerstörenden, konsequent destruktiven Denkintentionen ihres Erzeugers entzogen. Das gelang ihr natürlich nicht. Sie hatte sich damit abfinden müssen. Das deprimierte sie lebenslänglich. Sie hatte längst jeden Widerstand gegen das die Umwelt überdurchschnittlich anstrengende und herausfordernde Gehirn ihres Vaters aufgegeben. Sie verehrte einen Despoten, der ihr geliebter Vater war und der es unbewußt naturgemäß auf ihre Vernichtung anlegte. In dessen Nähe man nur entkommen und sich erretten konnte, wenn man sich ihm bedingungslos unterordnete,
weil
man ihn liebte. Verehrung und Liebe, gleichzeitig der Wunsch zu entkommen, genügten, was sie betrifft, nicht. Für die sogenannte Normalität, nach welcher sich meine Mutter sehnte, wenngleich ihr selbstverständlich bewußt war, was diese Normalität gegenüber unserer Lebensweise für einen Abstrich bedeutete, hatte mein Großvater, der schon in frühester Jugend dieser sogenannten Normalität entflohen war, nichts als Spott und Hohn und die tiefste Verachtung übrig. Die Existenz eines Fleischermeisters oder Kohlengroßhändlers war für ihn niemals auch nur zur Debatte gestanden, in den Massenmantel hineinzuschlüpfen, wie er sich ausdrückte, das hatte er schon als Halbwüchsiger abgelehnt und mir immerfort, solange ich denken kann, eingetrichtert. Freilich, ein sogenanntes
normales Leben
hätte meiner Mutter vieles erleichtert; so war jeder Tag nichts anderes als ein Drahtseilakt, in welchem die ganze Zeit zu fürchten gewesen war, daß man abstürzt. Wir alle waren fortwährend auf dem Drahtseil und drohten ununterbrochen abzustürzen, tödlich. Der seiner Arbeit nachgehende und geldverdienende Vormund war als Neuling verständlicherweise noch der Ungeübteste auf diesem ständig schwankenden Familienseil, das über einen tatsächlich immer tödlichen Abgrund ohne Netz gespannt war; von meinem Großvater, der es so haben wollte. Insoferne waren wir eine seiltanzende Zirkusfamilie, die es sich niemals und auch nicht einen Augenblick gestattete, von dem Seil herunterzusteigen, und deren Übungen von Tag zu Tag schwieriger wurden. Wir waren auf dem Seil gefangen, vollführten unsere Überlebenskunst, die sogenannte Normalität lag unter uns, wir trauten uns nicht, in die Normalität hineinzustürzen, weil wir wußten, daß dieser Kopfsprung unseren sicheren Tod bedeutet hätte. Der Schwiegersohn, der Mann, der Vormund, konnte nicht mehr zurück, seine Übungen wurden belächelt, er klebte unweigerlich an unserem Seil und konnte nicht mehr herunter. Die Faszination, die mein Großvater und dessen Familie auf den ahnungslosen Erwählten meiner Mutter ausgeübt hatte, war zu groß gewesen, er war nun einmal auf das Seil heraufgezogen und hatte sich zu behaupten, er war mitgerissen, immer wieder aufgefangen, nicht mehr ausgelassen. Aber er kam auf dem Seil lebenslänglich nicht über das bloße Sich-Festhalten hinaus, es war keine Kunst, was er vollführte, er zappelte meistens hilflos über dem Abgrund, manchmal hörte man seine Schreie, aber der
Idiot
, wie mein Großvater oft sagte, rappelte sich wieder auf und machte mit. Die Gruppe nützte ihn für ihre Zwecke aus, die Gruppe war in ihrer Seiltanzkunst schon sehr weit fortgeschritten, sie bewunderte sich selbst ununterbrochen, wozu sie mit der Zeit gezwungen war, weil sie keine Zuschauer hatte, wenigstens keinerlei Zuschauer mit offenen Augen. Mein Großvater entstammte einer Bauern-, Krämer- und Gastwirtefamilie, sein Vater hatte erst mit zwanzig Jahren mühselig angefangen zu schreiben und an seinen Vater aus der Festung Cattaro einen Brief geschrieben, von dem er behauptete, er sei von seiner Hand, was mein Großvater immer anzweifelte. Das jahrzehntelange Ausschenken von Bier und das Kosten der von den Bauern auf ihren Zweirädern herbeigeschafften Butter sowie das fortwährende Spekulieren mit Grundstücken und Gebäuden waren ihm schon in den ersten Lebensjahren verdächtig gewesen, das Einkauf-Verkaufsdenken, das doch auf nichts

Weitere Kostenlose Bücher