Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
beschmutzt, ein paar Wörter mit einem ihrer Einwohner gesprochen, und man müsse erbrechen. Entweder ganz auf dem Land oder in einer Riesenstadt, war die Meinung meines Großvaters. Leider hatte sein Schwiegersohn, mein Vormund, nur hier eine Anstellung gefunden, und so seien wir gezwungen, in dieser verabscheuungswürdigen Atmosphäre zu existieren. Nun sei er selbst ja in Ettendorf, aber unten, in Traunstein, nein, dann lieber Selbstmord. Genauso redete er auf seinen Spaziergängen. Das Wort
Selbstmord
war eines seiner selbstverständlichsten Wörter, es ist mir seit der frühesten Kindheit vor allem aus dem Mund meines Großvaters vertraut. Ich habe Erfahrung im Umgang mit diesem Wort. Keine Unterhaltung, keine Unterweisung seinerseits, in welcher nicht unausweichlich die Feststellung folgte, daß es der kostbarste Besitz des Menschen sei, sich aus freien Stücken der Welt zu entziehen durch Selbstmord, sich umzubringen, wann immer es ihm beliebe. Er selbst hatte lebenslänglich mit diesem Gedanken spekuliert, es war seine am leidenschaftlichsten geführte Spekulation, ich habe sie für mich übernommen. Jederzeit, wann immer wir wollen, sagte er, können wir Selbstmord machen, möglichst auf das ästhetischste, sagte er. Sich aus dem Staub machen können, sagte er, sei der einzige tatsächlich wunderbare Gedanke.
Dein Vater
, sagte er, wenn er diesem gut gesinnt war,
dein Vormund
, wenn er ihn gerade verdammte, ist der Brotbringer, und davon leben du und deine Mutter, zeitweise leben wir alle davon, also müssen wir die Tatsache, daß er in diesem entsetzlichen Traunstein sein muß und unser Brot verdient, hinnehmen, es gab keine andere Wahl. Wir sind ein Opfer der Arbeitslosigkeit. Diese war die einzige freie Stelle für deinen Vater (oder Vormund) in ganz Österreich und ganz Deutschland. Wie ich diese Kleinstädter verachte. Wie ich sie hasse. Aber ich bringe mich nicht um. Nicht wegen dieser nichtsnutzigen Leute, die einen Rumpf auf zwei Beinen, aber keinen Kopf haben. Er ging nur nach Traunstein hinunter, wenn ihn meine Mutter zum Essen einlud. Von allen Frauen, die ich in meinem Leben gekannt habe, kochte meine Mutter am besten. Im Krieg machte sie sozusagen aus Nichts eine Delikatesse, das machte ihr keine nach.
Hausmannskost
oder
wie zuhause gekocht
ist ein Schreckenswort für mich, nicht was die Kunst meiner Mutter betraf. So hatten er und meine Großmutter zwei- oder dreimal in der Woche einen Grund, in die gehaßte Stadt Traunstein hinunterzugehen, auf ein Kalbskotelett, auf einen Rostbraten, auf einen Topfenstrudel. Zwei hocherhobene Häupter gingen gegen Mittag von Ettendorf hinunter nach Traunstein. Die Bauersleute hatten einen Enkel in meinem Alter, der in einem ebenerdigen Zimmer schlief. Dieser Georg, genannt Schorschi, der nicht in Traunstein, sondern in Surberg die Volksschule besuchte, war ein zusätzlicher Reiz. So war meine ganze Sehnsucht in Traunstein immer nur auf Ettendorf gerichtet. Schorschi war intelligent, er verehrte meinen Großvater, nahm begierig alles auf, was von diesem kam, und mein Großvater liebte ihn. Wie ich wuchs der Schorschi ohne Vater auf, ausschließlich bei seinen Großeltern, seinen Vater habe ich hin und wieder gesehen, seine Mutter nie, ich wußte nichts von ihr. Die Bauersleute erzogen ihr Enkelkind nach ihren bäuerlichen Vorstellungen, er wuchs in absoluter Kärglichkeit, ja tatsächlicher Kargheit auf, der Schorschi mußte neben dem Schulbesuch schwer arbeiten, er tat es aber voll Liebe, und er war es, mit dem gemeinschaftlich ich so manches Kalb aus dem Bauch einer Kuh herausgezogen habe. Er war kräftiger als ich, ähnelte seinem Großvater aufs Haar, er war semmelblond und, im Gegensatz zu mir, ein Rechengenie. Er löste jede Rechenaufgabe in Sekundenschnelle. Die Winterszeit verbrachte ich beinahe ausschließlich mit ihm und seinen Großeltern in deren Stube, wenn nicht bei meinen Großeltern im ersten Stock, wo man froh war, mich, wenn mein Großvater arbeitete, hinunterschicken zu können. Schorschi, mein Kumpan, mein Verschworener und engster Vertrauter außer meinem Großvater. Vor ein paar Jahren habe ich ihn zum letztenmal gesehen, wir waren beide gerade fünfundvierzig, er war verrückt geworden und hatte das Haus seiner Großeltern, das sie ihm vererbt hatten, zwei Jahre nicht mehr verlassen gehabt. Er bedrohte jeden, der es wagte, zu ihm in den ersten Stock hinaufzusteigen, dahin, wo meine Großeltern einmal wohnten, mit dem Umbringen. Er hatte
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