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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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der Schule und umgekehrt. In die Kirche war es ein Katzensprung. Spielte der Organist auf der Orgel, hörte man es im Schulzimmer. Vormittags wurden vier Stunden, nachmittags zwei Stunden unterrichtet. Die einstündige Mittagspause genügte nicht, nachhause und wieder zurück zu gehen. Bei dem örtlichen Friseur, in einem kleinen, feuchten, einstöckigen Haus in einem Georginengarten, der Mitte Herbst seine ganze Pracht entfaltete, gab es für mich und den Hippinger Hansi einen sogenannten Mittagstisch. Die Frau des Friseurs kochte uns tagtäglich abwechselnd Nudel- oder Haferschleimsuppe. Dazu gab es ein Stück Brot. Die Großeltern bezahlten den Mittagstisch. Jahrelang bin ich in der Mittagspause durch das Gartentor des Friseurs Sturmayr, um meinen Hunger zu stillen. Leider bestand der Unterricht nicht nur aus dem Zeichnen von Petroleumlampen, es mußte auch gerechnet und geschrieben werden. Alles langweilte mich von Anfang an. Meine Einser hatte ich wohl der unausgesetzten Bewunderung meiner Lehrerin zu verdanken, weder meinem Können noch meinem Fleiß, beides existierte nicht. Mein Großvater hatte gesagt, daß die Lehrer Idioten seien, arme Schlucker, stumpfsinnige Banausen, daß sie auch schön sein können, wie meine Lehrerin, davon hatte er nichts gesagt. Ging die Schulklasse an den See, war es selbstverständlich, daß ich in der ersten Reihe war. Betraten wir die Kirche, betrat ich sie als erster. Beider Fronleichnamsprozession war ich allein derjenige, der die Kinder anführte und die Fahne mit der aufgemalten Mutter Maria trug. Dieses erste Jahr brachte mir, was das Wissen betraf, nichts Neues, aber ich kostete es zum erstenmal in meinem Leben aus, in einer Gemeinschaft der Erste zu sein. Es war ein Hochgefühl. Ich genoß es. Ich ahnte, daß es nicht für die Ewigkeit bestimmt war. In der zweiten Klasse hatten wir einen Lehrer, eine solche Figur, wie sie mir mein Großvater oft beschrieben hatte, mager, despotisch, nach oben buckelnd, nach unten tretend. Ich hatte ausgespielt. Die Klasse staunte, wie dumm ich aufeinmal war, über Nacht. Kein Diktat war gelungen, keine Rechnung, nichts. Ich zeichnete, aber ich bekam nur ein
genügend
. Jetzt war die Zeit des Hippinger Hansi angebrochen. Er hatte mich überflügelt. Hatte ich einen Vierer, hatte er einen Zweier, hatte ich einen Zweier, was selten vorkam, hatte er einen Einser undsofort. Jetzt bereute ich sogar, vorzeitig in die Schule eingetreten zu sein. Andererseits, so dachte ich, habe ich einen Vorsprung und bin um ein Jahr früher aus der Hölle heraußen. Mich interessierten nurmehr noch das Zeichnen und die Geografie. Wenn ich das Wort London las, war ich begeistert, oder Paris oder New York, Bombay oder Kalkutta. Ich verbrachte halbe Nächte über Europa, das ich in meinem Atlas aufgeschlagen hatte, über Asien, über Amerika. Ich ging durch die Pyramiden durch, ich bestieg Persepolis, ich war im Tadsch Mahal. Ich ging in den Wolkenkratzern ein und aus und betrachtete vom Empire State Building aus die übrige Welt, die mir zu Füßen lag. Basel, der Geburtsort meiner Mutter, was für ein Wort! Ilmenau in Thüringen, in der Landschaft Goethes, wo mein Großvater Technik studiert hatte! Noch heute ist meine Lieblingslektüre der Atlas. Immer die gleichen Punkte, immer andere Phantasien. Einmal würde ich in Wirklichkeit überall da sein, worauf mein Finger zeigte.
Mit dem Finger über die Landkarte
, für mich war das kein gedankenlos hingeworfener Spruch, es war ein Hochgefühl. Ich träumte von meinen zukünftigen Reisen und wann und auf welche Weise ich sie machen würde. Während des Unterrichts sah ich immer mehr in die Wolkenkratzerschluchten von Manhattan als auf die Tafel vor mir, auf welcher der Lehrer mathematische Öde ausbreitete. Ich haßte aufeinmal Tafel und Kreide, die ich bis dahin bewundert hatte, sie brachten nur Unheil. Die Griffel zerbrachen mir, weil ich zu fest zu schreiben ansetzte, ich war kein Schönschreiber, es war nicht zu lesen, was ich ablieferte. Alle paar Tage hatte ich meinen Schwamm verloren, ich mußte auf die Tafel spucken und mit meinen Ellenbogen das Daraufgeschriebene abwischen, auf diese Weise wetzte ich in kürzester Zeit meinen Rock durch. Das wiederum verärgerte meine Großmutter, die mit dem Flicken, sonst ihre Leidenschaft, nicht mehr nachkam. So war ich sehr bald in einem Teufelskreis gefangen, der sich nach und nach zum Alptraum entwickelte und der mir schon in aller Frühe den Hals zuschnürte. Ich

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