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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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wünschte ich. Ich war damals noch nicht fünf Jahre alt, da fragte mich der Dechant, der gleichzeitig der Direktor der Volksschule war, auf der Straße, ob ich nicht Lust hätte, ein Jahr früher als vorgeschrieben in die Schule einzutreten, er habe fast nur Mädchen in der Klasse, das sei langweilig, natürlich müsse ich die Erlaubnis meines Großvaters einholen. Für den Dechanten war mein Großvater, den er inzwischen auf beider Spaziergängen kennengelernt hatte, eine absolute Respektsperson, das merkte ich gleich, vor allem an der Art und Weise, wie er das Wort
Großvater
sagte. Ich hatte Lust, aber, sagte ich, ich wolle nicht ohne meinen Freund, den Hippinger Hansi, in die Schule eintreten, sicher dürfe der Hippinger Hansi zugleich mit mir in die Schule eintreten. Der Hippinger Hansi durfte, weder seine Eltern noch der Dechant hatten etwas dagegen. Mein Großvater hatte sofort eingewilligt, allerdings, hatte er gesagt, die Lehrer sind Idioten, ich warne dich vor ihnen, ich habe dich über sie aufgeklärt. Ich bekam eine alte Schultasche, die eigens für mich vom Dachboden des großväterlichen Elternhauses in Henndorf heruntergeholt worden war und die meine Großtante Rosina mit Schmollpasta aufpolierte. Angeblich hatte diese Schultasche schon ihr Vater getragen. Den Duft des alten Leders liebte ich. Der erste Schultag gipfelte in einer Fotografie, die von der ganzen Klasse gemacht wurde und die ich noch heute besitze, in der Mitte oben die Lehrerin, darunter, in zwei Reihen, die Schülerinnen und Schüler mit ihren Bauerngesichtern, die Überschrift der Fotografie lautet:
mein erster Schultag
. Ich habe darauf eine lange Lodenjacke an, bis zum Hals zugeknöpft, und einen viel ernsteren, melancholischeren Blick, als er dem Anlaß entsprochen hätte. Ich sitze in der zweiten Reihe, in der ersten haben sie alle gekreuzte Beine und sind barfuß. Wahrscheinlich bin auch ich barfuß gewesen. Die Kinder in Seekirchen und Umgebung liefen von Ende März bis Ende Oktober barfuß, sonntags schlüpften sie in Schuhe, die so groß waren, daß sie damit kaum gehen konnten, weil sie für mehrere Jahre gedacht waren und jedes erst langsam hineinwachsen mußte. Zum Schulbeginn war mir von dem ortsansässigen Schneider Janka eine Pelerine gemacht worden, die mir bis zu den Knöcheln hinunterreichte. Ich war stolz auf sie. Der Hippinger Hansi hatte kein derartig kostbares Kleidungsstück. Wurde es kalt, setzten wir von den Großmüttern selbst gestrickte Hauben auf und hatten Strümpfe aus der gleichen Wolle an unseren Füßen. Alles war für die Ewigkeit gestrickt und geschneidert. Aber ich sah doch immer anders aus als die andern, eleganter, wie mir schien, ich fiel sofort auf. In den ersten Schultagen, erinnere ich mich, hatten wir eine Petroleumlampe zu zeichnen, von allen abgelieferten Zeichnungen war meine am besten gelungen, die Lehrerin hob sie, vor der Tafel stehend, in die Luft und sagte, das sei die beste Zeichnung. Ich war ein guter Zeichner. Aber ich habe diese Möglichkeit nicht weiter verfolgt, sie verkümmerte wie so viele andere. Ich war der Lieblingsschüler der Lehrerin. Mit mir sprach sie in einem auffallend liebenswürdigen Ton, er war immer heller als der Ton für die andern. Meine erste Lehrerin gefiel mir außerordentlich. Die meiste Zeit saß ich in der Bank, naturgemäß neben dem Hippinger Hansi, und bewunderte sie. Sie trug ein englisches Kostüm und hatte einen zu dieser Zeit in höchster Mode stehenden Mittelscheitel. Am Ende des ersten Schuljahres stand auf dem Zeugnis, unterstrichen,
hat einen besonderen Fleiß
. Ich wußte selbst nicht, wie ich dazu kam. Ich hatte lauter Einser, das erste und gleichzeitig auch das letztemal in meinem Leben. In der Ecke des Schulzimmers stand ein riesiger Kachelofen, der mit den Holzscheitern geheizt wurde, die von den Schülern in der Frühe von zuhause in die Schule mitgebracht wurden. Jeder hatte unter dem Deckel seiner Schultasche ein Holzscheit eingeklemmt. Die Reichen hatten große, die Armen hatten kleine Holzscheiter mitgebracht. Es gab keine Vorschrift, wie groß das Holzscheit zu sein hatte. Mit den Scheitern des Vortags erwärmte sich das Schulzimmer bald. Das Feuer prasselte schon, wenn der Unterricht begann, der Ofen wurde abgesperrt, die Wärme hielt bis zum nächsten Morgen. Das Gebäude war über zweihundert Jahre alt und ist heute längst abgerissen. Der Dechant und Direktor hatte nur ein paar Schritte aus dem Pfarrhof zu gehen, schon war er in

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