Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
ausbrach. Die Frau des Friseurs starb, es gab keinen Mittagstisch mehr. Die sogenannten alten Hippinger starben und waren nur wenige Wochen nacheinander im Zuhaus aufgebahrt. Zweimal zog sich der Leichenzug von Hipping nach Seekirchen hinunter. Die Luft war nicht mehr so würzig, ich weiß nicht warum. Mein Großvater hatte mit mir keine Geduld,
Traunstein, entsetzlich!
rief er aus und zog sich nach dem Nachtmahl sofort zurück. Aber wir hatten hier absolut keine Verdienstmöglichkeit, wir hatten in Österreich keine Überlebenschance. Nicht auf Traunstein, auf einen ganz in der Nähe, in dem heimatlichen Henndorf lebenden berühmten Schriftsteller konzentrierte sich jetzt die ganze Hoffnung. Meine Großmutter habe ein Manuskript zu dem berühmten Mann getragen, der sei dabei, einen Verleger ausfindig zu machen, der es druckt. Man wartete. Die Spaziergänge waren keine Erleichterung mehr, sie waren eine Tortur. Die Selbstmorddrohungen meines Großvaters waren wieder da. Von der sogenannten Winterhilfe bekamen wir auf dem Gemeindeamt ein paar lange Erbswürste, Zucker, Brot. Es war deprimierend, sich den Sack abzuholen. Meine Großmutter hatte mich mitgenommen. Unser einziges Vergnügen, wenn es ein solches überhaupt sein konnte, war jetzt nurmehr noch das Eumig-Radio, aus welchem aber, wie ich fühlte, nur schauerliche Nachrichten herauskamen, die meinen Großvater mehr und mehr verdüsterten. Von Umbruch und Anschluß war die Rede, ich konnte mir darunter nichts vorstellen. Zum erstenmal hörte ich das Wort
Hitler
und das Wort
Nationalsozialismus
. Leider, man bleibt nicht jung, sagte mein Großvater. Er schwärmte, beinahe dreißig Jahre, nachdem er sie verlassen hatte, von der Schweiz.
Die Schweiz ist der Himmel, meine Kinder!
sagte er.
Nach Deutschland? Es dreht mir den Magen um, wenn ich nur daran denke. Aber wir haben keine andere Wahl
. In dieser Zeit sah ich im großen Saal des Gasthofes Zauner in Seekirchen zum erstenmal in meinem Leben ein richtiges Schauspiel. Der Saal war vollgestopft, sodaß ich kaum Luft bekommen habe. Ich stand auf einem Sessel an der rückwärtigen Wand, neben mir der Hippinger Hansi. Auf der Bühne war ein vollkommen nackter Mann an einen Baumstamm gefesselt und wurde ausgepeitscht. Als die Szene zuende war, klatschte der ganze Saal, und die Leute schrien vor Begeisterung. Ich weiß heute nicht mehr, um was für ein Theaterstück es sich handelte. Immerhin, meine allererste Szene auf einer Bühne war eine fürchterliche. Eines Tages war ein Telegramm angekommen, in welchem meinem Großvater mitgeteilt wurde, daß sein Roman angenommen sei. Von einem Wiener Verleger. Der berühmte Mann hatte wahrgemacht, was er versprochen hatte, das Buch erschien, und mein Großvater bekam dafür einen Staatspreis. Der erste und einzige Erfolg war da. Mein Großvater war sechsundfünfzig. Die Summe reichte aus, um bei dem Schneidermeister Janka einen Winterüberzieher zu bestellen und
ein menschenwürdiges Geschirr
anzuschaffen, wie sich mein Großvater ausdrückte. Ja, sagte mein Großvater, man darf nicht nachgeben und schon gar nicht aufgeben. Mein Vormund war schon in Traunstein, er arbeitete bei dem Friseur Schreiner in der Schaumburgerstraße. Die Abreise meiner Großeltern sollte erst dann erfolgen, wenn mein Vormund für sie eine Wohnung in Traunstein gefunden hatte, möglichst, wie mein Großvater immer wieder forderte,
nicht in Traunstein selbst, in der Nähe, also ganz auf dem Land, aber nicht zu weit weg
. Es war nicht einfach. Ich selbst sollte noch eine Zeitlang bei meinen Großeltern bleiben, ich hatte eine Gnadenfrist, mein Paradies aufzulösen. Ich ging meine Wege immer in dem Bewußtsein, sie zum allerletztenmal zu gehen. Auch den sogenannten berühmten Schriftsteller in Henndorf suchten wir auf, eine Versöhnung zwischen meinem Großvater und seiner Schwester Rosina hatte stattgefunden, er betrat sein Elternhaus wieder, wenngleich mit Vorbehalt. Er setzte sich sogar in den Gastgarten und zählte im Gastzimmer unten, einem großen Saal, sämtliche Geweihe an der Wand auf, alles Abschüsse von seinem Bruder, der, wie erwähnt, Selbstmord begangen hat auf dem Zifanken, dem höchstgelegenen Berg bei Henndorf. Was wäre aus mir geworden, wäre ich dageblieben, hätte ich mein Erbe nicht hingeworfen, sagte er. Gleich darauf: aber was ist aus mir geworden, wie wir es drehen, es ist in jedem Fall entsetzlich. Wir gingen durch das großväterliche Elternhaus, er zeigte mir alle Räume von
Weitere Kostenlose Bücher