Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
sondern auch die schreienden braunen Massen, die es in Österreich nicht gegeben hatte. Auf einem sogenannten Kreistag, der neunzehnhundertneununddreißig in Traunstein abgehalten worden ist, marschierten Zehntausende sogenannte Braunhemden auf dem Stadtplatz auf, mit Hunderten von Fahnen nationalsozialistischer Gruppen, sie sangen das Horstwessellied und
Es zittern die morschen Knochen
. Auf dem Höhepunkt der Veranstaltung, zu welcher ich, sensationsgierig, wie ich war, schon in aller Frühe gelaufen war, um nur ja nichts zu versäumen, sollte der Gauleiter Giesler aus München eine Rede halten. Ich sehe noch, wie der Gauleiter Giesler das Podium besteigt und zu schreien beginnt. Ich verstand kein Wort, denn die Lautsprecher, die um den ganzen Platz aufgestellt waren, um Gieslers Rede zu übertragen, übertrugen nur ein gewaltiges Gekrächze. Plötzlich fiel der Gauleiter Giesler in sich zusammen und verschwand wie eine ockerfarbene Puppe hinter dem Rednerpult. In der Menge verbreitete sich sofort, daß den Gauleiter Giesler der Herzschlag getroffen habe. Die Zehntausende zogen ab. Auf dem Stadtplatz herrschte Ruhe. Aus dem Radio hörten wir am Abend die offizielle Bestätigung des Todes vom Gauleiter Giesler. Auf diesem Kreistag war ich noch nicht Mitglied des sogenannten Jungvolks, einer Vorstufe der sogenannten Hitlerjugend. Kurz darauf war ich es. Ungefragt mußte ich eines Tages im Hof der Realschule, die gleich neben dem Gefängnis liegt, mit einer Reihe von Gleichaltrigen vor einem sogenannten Fähnleinführer antreten. Das Jungvolk war in schwarze Schnürlsamthosen und in braune Hemden gesteckt, um den Kragen hatte jeder ein schwarzes Tuch, das auf der Brust durch einen geflochtenen Lederring gezogen werden mußte. Dazu weiße Kniestrümpfe. Weil sie dachte, daß Schnürlsamt Schnürlsamt sei, ließ mir meine Großmutter bei der Firma Teufel auf dem Stadtplatz, dem bekanntesten Kleiderhaus, das einen Schneider beschäftigte, eine Samthose machen, weil ihr der braune besser gefiel, nicht aus einem schwarzen, sondern aus einem braunen Schnürlsamt. Als ich als einziges angetretenes neues Jungvolkmitglied in einer braunen, anstatt wie alle andern in einer schwarzen Schnürlsamthose angetreten war, gab mir der Fähnleinführer eine Ohrfeige und verjagte mich aus dem Real-schulhof mit dem Befehl, das nächstemal mit einer vorgeschriebenen schwarzen Schnürlsamthose zu erscheinen. Nun wurde mir in aller Eile eine schwarze Schnürlsamthose gemacht. Das Jungvolk war mir noch entsetzlicher als die Schule. Ich hatte es bald satt, immer die gleichen stupiden Lieder zu singen, immer dieselben Gassen mit Marschschritt und lautem Geschrei zu durchqueren. Die sogenannte Wehrertüchtigung haßte ich, ich war für das Kriegsspiel ungeeignet. Die Meinigen beschworen mich, diese Jungvolktortur auf mich zu nehmen, sie sagten nicht, warum, ich tat ihnen den Gefallen. Ich war es gewohnt, selbständig, die meiste Zeit allein zu sein, ich haßte die Herde, ich verabscheute die Masse, das hundert- und tausendfache Brüllen aus einem Maul. Das einzige, das mir am Jungvolk imponierte, war eine braune, absolut regensichere Pelerine. Daß sie auch die Parteifarbe hatte, störte mich nicht. Der Großvater fand das Jungvolk grauenhaft,
aber du mußt hingehen, es ist mein innigster Wunsch
, sagte er,
wenn es dich auch die größte Überwindung kostet
. Das ganze Jungvolk hatte ich bald satt. Meine Chance war meine Laufkunst. Ich war, ob es sich um den Fünfzigmeterlauf, den Hundertmeterlauf oder den Fünfhundertmeterlauf handelte, immer der Erste. Hier, bei den Wettkämpfen, die zweimal im Jahr abgehalten wurden, fand ich die uneingeschränkte Bewunderung. Ich wurde auf ein Podest gestellt und geehrt, der Fähnleinführer heftete mir die Siegernadel an die Brust. Ich trug sie stolz nachhause. Sie bewahrte mich vor der Vogelfreiheit. Ich habe mehrere solcher Siegernadeln bekommen. Auch bei einer Schwimmeisterschaft war ich einmal der Beste, und auch das hatte mir eine Siegernadel eingetragen. Meine Abscheu gegen das Jungvolk und seine Tyrannei war aber durch die an meine Brust gehefteten Siegernadeln nicht im geringsten eingeschränkt. Ich durfte mir, als Laufwunder sozusagen, aufeinmal mehr erlauben als die andern. Ich nützte das weidlich aus. Ich war nur immer aus Angst so schnell gelaufen, aus Todesangst. Die Tortur hatte sich mit dem Gewinn der ersten Siegernadel abgeschwächt. Aber das ganze Spiel ödete mich an. Von Politik verstand
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