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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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tiefer in den Sumpf. Sie traten mich, wo sie nur konnten. Auch ihnen gefiel die Bezeichnung Der
E
sterreicher, sie peinigten mich damit, verfolgten mich damit Tag und Nacht, ich hatte keine Ruhe mehr. Ich addierte falsch, ich dividierte falsch, ich wußte bald nicht mehr, wo oben und unten ist. Ich schrieb eine Schrift, die jedesmal, wenn die Schulaufgaben abgegeben worden waren, als ein Musterbeispiel grenzenloser Zerstreuung und Fahrlässigkeit angeprangert wurde. Beinahe verging kein Tag, an dem ich nicht vorzutreten und ein paar Schläge mit dem Rohrstock in Empfang zu nehmen hatte. Ich wußte wofür, aber ich wußte nicht, wie ich dazu kam. Ich war bald abgedrängt zu den sogenannten Schlechtesten, in das Rudel der Dummköpfe, die glaubten, ich sei einer der Ihren. Es gab für mich kein Entkommen. Die sogenannten Gescheiten mieden mich. Bald sah ich, daß ich weder zu der einen Gruppe gehörte noch zur anderen, daß ich in keine paßte. Dazu kam auch noch, daß ich keine sogenannten angesehenen Eltern hatte, der Sprößling sozusagen von armen, dahergelaufenen Leuten war. Wir hatten kein Haus, wir waren nur
in der Wohnung
, das sagte alles. Nur aus einer Wohnung zu sein und nicht aus einem eigenen Haus, bewirkte in Traunstein schon von vornherein das Todesurteil. Wir hatten drei Kinder aus dem Waisenhaus in der Klasse, ihnen fühlte ich mich noch am nächsten. Die drei wurden jeden Morgen aus dem Waisenhaus, das an der Straße lag, die in die Au führte, von einer geistlichen Schwester in die Schule geführt, mit den Händen aneinander, in rauhen, grauen Hosen und Röcken, die den Hosen und Röcken der Gefängnisinsassen ähnlich waren. Sie hatten alle Augenblicke kahlgeschorene Köpfe und wurden von den übrigen Mitschülern im Grunde gar nicht zur Kenntnis genommen, sie waren lästig, aber man legte sich nicht mit ihnen an. In den Pausen bissen die Kinder der Wohlhabenden in riesige Äpfel und in dick aufgestrichene Butterbrote, meine Leidensgenossen aus dem Waisenhaus und ich mußten sich mit einem Stück trockenen Brotes begnügen. Wir waren vier wortlose Verschworene. Ich scheiterte tatsächlich konsequent, und nach und nach hatte ich meine Bemühungen aufgegeben. Mein Großvater wußte auch keinen Ausweg. Das Zusammensein mit ihm entschädigte mich, sobald ich konnte, rannte ich über den Taubenmarkt und die sogenannte Schnitzelbaumerstiege hinunter zum Gaswerk und an diesem vorbei nach Ettendorf. Das dauerte eine Viertelstunde. Keuchend fiel ich meinem Großvater in die Arme. Während der Schorschi, der in Surberg zur Schule ging, zu dieser Gemeinde gehörte Ettendorf, nicht zu Traunstein, noch arbeiten mußte, durfte ich an der Seite des Großvaters den sogenannten Abendspaziergang machen. Meine Mutter hatte nie eine Schule besucht, weder eine öffentliche noch eine private, sie war ja zur Primaballerina bestimmt gewesen und hatte in ihrer Kindheit nur einen einzigen Lehrer gehabt: meinen Großvater, der sie zuhause unterrichtete. Warum mußte ich in die Schule gehen? Nur weil sich die Gesetze geändert haben! Das verstand ich nicht. Ich verstand die Welt nicht, nichts verstand ich, ich begriff überhaupt nichts mehr. Ich hörte, was der Großvater sagte, aber es half mir nicht, mit meinen Lehrern fertig zu werden. Ich war nicht so dumm wie die anderen, aber ich war unfähig für die Schule. Meine Interesselosigkeit, den Schulstoff betreffend, trieb mich immer mehr zum Abgrund. Obwohl jetzt mein Großvater da war, Ettendorf der Heilige Berg geworden war, auf welchen ich jeden Tag pilgerte, zappelte ich jeden Tag erbarmungsloser in den Netzen der Schule, in den Fängen der Lehrer. Bald werde ich ersticken, dachte ich. Ich machte vor dem Schultor wieder kehrt, ich war auf die Idee mit der Bahnsteigkarte gekommen. Ich holte sie mir um ein Zehnpfennigstück aus dem Automaten, ging durch die Sperre und setzte mich in einen beliebigen Zug. Meine erste Reise führte mich nach Waging. Der Zug führte unmittelbar unterhalb des großelterlichen Hauses in Ettendorf vorbei. Ich weinte, als ich vorbeifuhr. Die Lokomotive stieß wie mit letzten Kräften ihren Dampf aus. Es ging durch Wälder, in Schluchten hinein, durch Sümpfe und Wiesen. Ich sah meinen Platz in der Klasse: er war leer. Der Zug rollte nach einer großen Windung eine Pappelallee entlang in Waging ein. Jetzt ist schon die dritte Unterrichtsstunde, dachte ich. Der Lehrer wuchs sich in seinem Zorn gegen mich zu einem Ungeheuer aus. Waging war ein stiller

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